Essen. Vor genau 60 Jahren, am 4. Juli 1954, schoss der Helmut Rahn beim WM-Finale gegen die Ungarn sein Jahrhundert-Tor. In den Herzen der Fans lebt der „Boss“ weiter. Auf dem Margarethen-Friedhof flehen sie den Beistand des berühmtesten Essener Fußballspielers vor den Spielen der deutschen Nationalmannschaft herbei.

Der kleine Margarethen-Friedhof an der Frohnhauser Straße in Essen. Hier hat der berühmteste Fußballer der Stadt an der Seite seiner Frau Gerti seine letzte Ruhestätte: Helmut „Boss“ Rahn - der Weltmeister von 1954. Geboren in Essen, gestorben in Essen. Sein Grab liegt unter einer Scheinzypresse und ist so, wie er selbst lebte: schlicht. Der Stein aus rotem Granit, dazu eine Azalee, Buchsbaum und eine Schale mit Begonien. Kein Schnickschnack.

Vergessen haben die Essener ihr Idol nicht. Im Gegenteil. Für viele ist der Margarethen-Friedhof sogar eine Pilgerstätte geworden. „Wo ist der Helmut?“ Diese Frage, die Vertrautheit und Nähe verrät, würde ihr regelmäßig gestellt, berichtet Eva Freden, die Friedhofsgärtnerin. Zuletzt müssen sich Rot-Weiss-Fans vor ihm verneigt haben. Denn drei Grablichter, eines mit Rot-Weiss-Banderole, sind gerade abgebrannt.

Ein gläubiger Boss

Der Boss Helmut Rahn im Einsatz für die deutsche Nationalmannschaft.
Der Boss Helmut Rahn im Einsatz für die deutsche Nationalmannschaft. © dpa

Wir schreiben den 4. Juli 1954, das Wankdorfstadion in Bern: Da schießt der Rechtsaußen das entscheidende Tor zum Finalsieg gegen die Ungarn. Jetzt, 60 Jahre später, ist wieder Weltmeisterschaft. Und deshalb ist der Beistand vom Boss erneut gefragt. „Kurz vor dem USA-Spiel hat ein junger Mann im 54er Retro-Trikot an Rahns Grab gebetet“, berichtet Eva Freden.

Helmut Rahns Grab ist in Kreuzesform geschnitten. Ein Indiz für seine Gläubigkeit - und nicht das einzige. „Als ich noch neu bei St. Elisabeth war, stand ein älterer Herr mit Mütze vor der Tür und wollte eine Kerze anzünden“, berichtet Pfarrer Bernhard Alshut. Später habe ihm der Küster verraten, wen er vor sich hatte: den Boss.

Seeler, Overath und der Ruhrbischof beim Benefizspiel

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Helmut Rahn und seine Gläubigkeit - das ist ein eher unbekanntes Kapitel im Leben des Sportidols. Als er 1979 fünfzig wird, lässt er’s richtig krachen. Er veranstaltet ein Benefizspiel, zu dem alles kommt, was im deutschen Fußball- und Fernsehgeschäft Rang und Namen hat. Uwe Seeler, Max Lorenz, Wolfgang Farian, Charly Dörfel, Wolfgang Overath, sie laufen ebenso auf wie der legendäre Stahlnetz-Regisseur Jürgen Roland als Stadionsprecher und Kulis Butler Martin Jente. Den Anstoß wird kein Geringerer als der Ruhrbischof ausführen. „Zu Franz Hengsbach, der sehr sportbegeistert war, hatte mein Vater einen guten Draht“, erzählt Helmut Rahns ältester Sohn Uwe.

9000 Zuschauer sehen dieses Spiel, ein Spektakel, von dem sie in Frohnhausen noch heute sprechen - manche sogar mit Glanz in den Augen. Der nicht unbeträchtliche Erlös fließt übrigens ins Pfarrheim von St. Elisabeth. „Helmut Rahn war mehr als nur ein Tor“, sagt Pfarrer Alshut, der ihn 2003 beerdigt hat. „Er war Familienvater und Großvater, Vereins- und Gemeindemitglied. In Frohnhausen werden sie den Boss bestimmt nie vergessen. Die Bezirkssportanlage trägt seit 2010 Helmut Rahns Namen.

Auf Helmut Rahn lässt Dieter Ellers (70) nichts kommen:

Helmut Rahn und sein Stammlokal - die „Friesenstube“ in Frohnhausen 

Auf Helmut Rahn lässt Dieter Ellers (70) nichts kommen. Rein gar nichts. Der ehemalige Wirt der „Friesenstube“ kennt den Boss schon seit Beginn der sechziger Jahre. „Am Anfang habe ich ihn aus lauter Ehrfurcht gesiezt“, erzählt er.

Als Rahns Stammlokal genießt die Kneipe auf der Frohnhauser Straße Kultstatus: Sie ist inzwischen sogar Teil der „Deutschen Fußball Route NRW“. „Der Helmut war ein ganz feiner Typ, ein Kumpel durch und durch“, sagt Ellers, „wenn er jemanden mochte, dann hat er zu ihm gehalten.“

Bei der WM 1954 sorgte Sepp Herberger dafür, dass die Essener Frohnatur mit dem eher grüblerischen Fritz Walter das Zimmer teilte - sozusagen als Stimmungsaufheller. Rahn nannte den Spielführer übrigens immer respektvoll „Friedrich“. Genauso erlebten sie den prominenten Gast auch in dem gemütlichen Schankraum, der in diesen brasilianischen Tagen voller Schwarz-Rot-Gold ist. „Wenn Stimmung im Laden war, dann hat Helmut Rahn von Zuhause das Akkordeon kommen lassen und den ganzen Abend Fußballlieder gespielt.“ Bilder vom berühmten Quartier in Spiez zeigen den blendend aussehenden Rechtsaußen aus Essen in derselben Pose: mit „Quetsche“.

Von der Bundesliga in die Thekenmannschaft

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Gegenüber der Theke haben sie eine kleine Helmut Rahn-Gedächtnisecke aufgebaut: mit wertvollen Raritäten wie Original-Rahn-Autogrammkarten sowie einem Foto seiner WM-Elf, ebenfalls mit Original-Unterschriften. Weil dort lange Zeit auch das Original-Rahn-Nationaltrikot prangte, sprechen die Gäste scherzhaft vom „Altar“.

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Dieter Ellers ist vom Rahn-Bewunderer längst zum zu einer Art Rahn-Biograf aufgestiegen. Rahns Südamerika-Tournee mit Rot-Weiss, Rahn beim Papst, Rahn als Autohändler, Rahns traurige Episode nach der Trunkenheitsfahrt 1957 - Ellers scheint fast alle Stationen aus dem Leben Rahns zu kennen. Und ist sich daher absolut sicher, dass dieses kurze, aber verhängnisvolle Kapitel im Leben des Idols, als er seinen Wagen angetrunken in eine Baugrube steuerte, vom sensationslüsternen Boulevard maßlos, ja boshaft, aufgebauscht wurde.

Seine Stationen - von Altenessen 12 über Oelde, Katernberg, RWE, Köln, Enschede und Meiderich - kann er mühelos herunterbeten. „Was die Wenigsten wissen: Der Helmut hat nach seiner aktiven Zeit in der Bundesliga noch für uns in der Thekenmannschaft gespielt.“

Uwe Rahn spricht über seinen berühmten Vater 

Was bedeutete der Weltmeistertitel für Ihren Vater? War es nur Segen oder auch ein bisschen Fluch?

Uwe Rahn: Ich glaube, er konnte mit dem Erfolg sehr gut umgehen, allerdings auf der Grundlage seiner Wertvorstellungen. Was der Welterfolg bedeutete: Nun, er wurde von Papst Pius empfangen und hat 1955 mitten im Kalten Krieg in der Sowjetunion Fußball gespielt. Das war völkerverbindend. Er hat nicht versucht, die Seiten der Yellow Press zu füllen. Stattdessen wollte er lieber mit Freunden zusammen sein.

Uwe Rahn (links) und Bruder Klaus mit dem linken WM-Schuh ihres Vaters Helmut Rahn. Foto: Wäschi
Uwe Rahn (links) und Bruder Klaus mit dem linken WM-Schuh ihres Vaters Helmut Rahn. Foto: Wäschi

Und was bedeutet das „Wunder von Bern“ für Sie?

Rahn: Schauen Sie sich den Verlauf des Spiels an – weitermachen, immer weitermachen, sich nicht aufgeben!

Hat Ihnen Ihr Vater Anekdoten erzählt von 1954 erzählt?

Rahn: Nein, das nicht. Aber mein Bruder und ich haben das 54 Endspiel später mittels Schallplatte angehört.

Wie war Ihr Vater als Mensch?

Rahn: Gradlinig, unbestechlich, ehrenhaft, bodenständig, gläubig und natürlich humorvoll.

Wie sollte die Stadt Essen an den Mythos Helmut Rahn erinnern: mit einem Platz oder einer Straße? Oder hätte Helmut Rahn darauf womöglich gar keinen Wert gelegt?

Rahn: Ich denke, die Stadt Essen sind die Bürger, die hier leben. Sie sehen ja an dem Beispiel „Denkmal“, das von der Bevölkerung gestiftet wurde, wie die Bürger denken. Es gibt dann gewählte Vertreter, die haben ein Gespür für so etwas, andere wiederum nicht. Die Inschriften „Rahn müsste schießen...“ auf der A40 sind ein gelungenes Beispiel dafür. Übrigens: Es gibt schon seit Jahren eine Helmut Rahn-Straße in Oelde, wo er von 1946 bis 1950 für den SC 09 gespielt hat.

Haben Sie noch Kontakte zu Freunden Ihres Vaters?

Rahn: Wir haben neulich Horst Eckel von der Weltmeisterelf mit seiner Familie getroffen. Mit Otto Rehhagel und seiner Gattin sind wir zusammen Gründungsmitglieder der „Essener Chancen“.