Essen. Der Betriebsrat des Essener Werkzeugherstellers ging gestern mit einem „Skandal“ vor die Tore. Der Konzern hatte die Zusage für zehn Ausbildungsplätze überraschend zurückgenommen. Bewerber bereits ausgewählt.

Mit einem „Skandal“ trat der Betriebsrat des Essener Werkzeugherstellers Kennametal Widia gestern Mittag bei Schichtwechsel vor die Tore in der Harkortstraße. Denn hatte der ehemalige Krupp-Konzern noch im Herbst zehn Ausbildungsplätze zugesichert, lautete in der vergangenen Woche plötzlich die Ansage, dass die Ausbildung in diesem Jahr auf Eis gelegt wird.

Ein Schlag ins Gesicht für das zweitgrößte Werk Europas. Denn alle anderen Standorte des amerikanischen Konzerns dürfen auch weiterhin fleißig ihren Nachwuchs heranzüchten. „Für uns ist das ein Skandal“, erklärt Wolfgang Freye als Betriebsratsvorsitzender des Standorts Essen. „Bei allen zehn Stellen hatte die Geschäftsleitung im vergangenen Jahr noch den Bedarf erkannt“, so Freye. Der habe sich nicht plötzlich „in Luft aufgelöst“.

Mitarbeiter fürchten Mehrarbeit

Im Gegenteil sei er elementar vorhanden: Denn in den nächsten fünf Jahren würden über 60 Beschäftigte aus Altersgründen ausscheiden. Schleiftechniker, Elektriker, Schlosser. „Das sind Facharbeiterstellen, die man nicht von heute auf morgen neu besetzen kann“, erklärt Michael Mehles, der seit über 40 Jahren bei Kennametal Widia arbeitet und gleichzeitig auch Ausbildungsbeauftragter ist. „Wenn wir in Rente gehen und kein Nachwuchs da ist, geht unser Fachwissen für immer verloren“, sagt der 57-Jährige.

„Sollten in diesem Jahr tatsächlich keine Azubis eingestellt werden, wird das eine große Lücke in unseren Personalbedarf reißen“, ist sich auch Freye sicher. Die daraus folgende Mehrarbeit fürchten die Mitarbeiter schon jetzt. „Die wollen uns hier scheinbar ausbluten lassen“, ruft Michael Mehles sichtlich verärgert.

Freye kann Argumente nicht nachvollziehen

Um den Facharbeiterbedarf zu decken, brauche man eine Ausbildungsquote von fünf Prozent, erklärt IG Metal Gewerkschaftssekretär Alfons Rüther. „Bei den 550 Mitarbeitern von Kennametal in Essen wäre demnach eine Zahl von 27 Azubis angebracht“, wirft Rüthers Rechnung aus. Mitte des Jahres werden es ohne Neuzugänge jedoch nur noch 15 sein. Als einer der größten produzierenden Betriebe der Stadt sei Kennametal in der Pflicht, soziale Verantwortung zu übernehmen - auch für 1900 junge Essener aus dem Doppeljahrgang, die noch immer keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, erklärt Rüther.

Eine direkte Stellungnahme war Kennametal gestern gegenüber der NRZ nicht möglich. Dem Betriebsrat nach führt die Geschäftsleitung zwei Gründe für ihre Entscheidung an: Die Kostensituation im Werk und die Tatsache, dass man im Ruhrgebiet noch genügend Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt finde. Wolfgang Freye kann keines der Argumente nachvollziehen. „Die Erfahrung zeigt, dass selbst Leiharbeiter mit Fachausbildung kaum noch zu finden sind.“ Und auch das Argument der Kostensituation sei „bei einem Konzern der Gewinne macht und aus den Krisenjahren gut herausgegangen ist“, absolut fadenscheinig. „Wir finden es gesellschaftspolitisch daher völlig inakzeptabel, keine einzige Ausbildungsstelle zu schaffen“, so Freye. Es seien in den letzten Jahren immer wieder Investitionen nach Essen geflossen. Um einen Betrieb zukunftsträchtig weiterzuentwickeln, müsse man auch in Fachkräfte investieren und nicht nur in Maschinen, meint Wolfgang Freye. Der Standort Essen solle scheinbar schlanker werden, auch das ist für Freye unverständlich: „Die Auslastung ist gut, wir haben immer wieder Aufträge aus den USA zurück gewonnen und Zuschläge für neue Produkte bekommen“.

30 Kandidaten vor dem Ungewissen

Die Entscheidung kam für den Betriebsrat völlig überraschend. „Wir hatten bereits aus über 360 Bewerbern eine Vorauswahl getroffen und Bewerbungsgespräche geführt“, erklärt Freye. „Die 30 Kandidaten werden seitdem hingehalten, einige rufen täglich an, andere sind vielleicht schon abgesprungen und haben sich für ein anderes Unternehmen entschieden“, so die Befürchtung des Betriebsrates. Noch ist die Hoffnung da, dass der Rückzug aus der Ausbildung ein Einzelfall bleibt. Doch wohin der Konzern seinen Standort fahren will, liegt für die Gewerkschaftler völlig im Dunkeln.