Essen. Die Essener Wirtschaft ist gut ins neue Jahr gestartet. Aber immer mehr Betriebe klagen über massiven Fachkräftemangel. Der Unternehmensverband ist daher überrascht, dass auf der anderen Seite die Bereitschaft zur Ausbildung sinkt. Auch den Stillstand bei Essen.2030 sieht er kritisch.

Wie ist die Essener Wirtschaft ins neue Jahr gestartet?

Ulrich Kanders, Hauptgeschäftsführer des Essener Unternehmensverbandes (EUV): Die Stimmung ist durchweg gut. Nach unserer aktuellen Konjunkturumfrage sind zwei Drittel der Unternehmen optimistisch in ihren Erwartungen fürs neue Jahr. Auch die Investitionsplanungen haben sich im Vergleich zur letzten Umfrage leicht verbessert.

Was macht die Unternehmen so optimistisch?

Die Auftragsbücher sind voll. 65 Prozent der Unternehmen sagen, dass sie gleichbleibende Inlandsaufträge haben. Das zeigt, dass man fürs neue Jahr gut zu tun hat

Und dennoch sind die Unternehmen was die Beschäftigung betrifft zurückhaltend.

Ja, das stimmt. Aber man muss auch sehen, dass in den letzten Jahren umstrukturiert worden ist. Unternehmen haben die Wirtschaftskrise genutzt, um die Produktion zu rationalisieren. Das hat Arbeitsplätze gekostet. Aber es gibt auch Bereiche, da entstehen neue Jobs. Der Fachkräftemangel wird ein großes Thema in den nächsten Jahren werden. In unserer aktuellen Umfrage beklagen über ein Fünftel, dass sie nicht die nötigen Fachkräfte finden. Das sind mehr als noch im Frühjahr 2013. Gerade in der Metall- und Elektroindustrie ist das Problem bereits spürbar. Gesucht werden vor allem Zerspaner, Dreher, Elektromonteure und IT-Kräfte

Umso erstaunlicher ist es, dass die Unternehmen in der Umfrage angegeben haben, dass sie eher weniger als mehr ausbilden wollen.

Das hat uns auch überrascht. Ich hätte gedacht, dass die Unternehmen mittlerweile mehr sensibilisiert sind, ihren eigenen Nachwuchs auszubilden. Zumal der Fachkräftemangel nicht erst seit gestern bekannt ist. Aber ich befürchte, die meisten Unternehmen fangen erst dann an zu handeln, wenn der Druck wirklich groß ist. Ich denke, bereits in den nächsten zwei drei Jahren wird es soweit sein und der Fachkräftemangel deutlich spürbar sein.

Was können Sie als Essener Unternehmensverband dagegen tun?

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Wir haben mit dem Demografie-Scout in den vergangenen zwei Jahren 20 Unternehmen sozusagen demografiefest gemacht und für das Thema sensibilisiert. Viele davon werden ihre Ausbildungszahlen aufgrund dessen erhöhen. Und da werden wird weiter ansetzen. Wir haben zudem den Arbeitskreis Schule/Wirtschaft, der unter anderem zuständig ist für Partnerschaften zwischen Schulen und Unternehmen. Da wollen wir die Patenschaften weiter ausbauen. Und ich kann mir gut vorstellen, dass aus solchen Patenschaften heraus Ausbildungsplätze entstehen.

Kontrovers wird die neue Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürger aus Bulgarien und Rumänien diskutiert. Ist sie Fluch oder Segen für den Arbeitsmarkt in Essen?

Man darf das Thema nicht nur auf Sozialhilfeempfänger, die jetzt angeblich kommen, reduzieren. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass darin eine große Chance für die Wirtschaft liegt. Vor allem wenn man das aktiv angeht, vielleicht auf Messen in den Ländern für qualifizierte Arbeitsplätze hier wirbt. Gerade für den gewerblichen Bereich könnten das interessante Wege mit Blick auf den kommenden Fachkräftebedarf sein.

Ein wichtiges Thema in Essen ist derzeit auch die Haushaltssperre. Befürchten Sie mittelfristig Auswirkungen auf die Wirtschaft, beispielsweise in Form höherer Gewerbesteuern?

Essen ist zwar hoch verschuldet, aber wenn man versucht, der Wirtschaft Mehrbelastungen aufs Auge zu drücken, vergrault man die Unternehmen. Es geht schließlich um die Attraktivität des Standortes Essen. Firmen, die überlegen, sich hier anzusiedeln, würden dann vielleicht woanders hingehen. Oder bestehende Unternehmen möglicherweise abwandern. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass die Stadt die Belastungen für die Wirtschaft erhöht, um aus dem Topf zu schöpfen.

Auch die Messe-Erneuerung wird immer wieder als wichtiger Standortfaktor für die Essener Wirtschaft genannt. Wieso ist die Messe so wichtig für die ansässigen Unternehmen?

Die Messe gehört zu Essen, sie hat Tradition und sie wird mit der Stadt in Verbindung gebracht. Sie ist aus meiner Sicht ein Baustein für den Wirtschaftsstandort Essen. Ein Abbröckeln des Messestandortes in Bezug auf Größe, Attraktivität, Modernität wird sich sicher nicht von heute auf morgen auswirken aber langfristig. Unmittelbar wären natürlich die direkten Arbeitsplätze in der Messe betroffen, genauso das Hotel- und Gaststättengewerbe.

Sie haben sich als Verband beim Prozess Essen.2030 miteingebracht. Es ist jedoch ruhig geworden um das Thema. Wie bewerten Sie den Stillstand?

Ich befürchte, dass der Prozess bei der Stadt eingeschlafen ist. Ich fände das jedoch sehr bedauerlich. Denn die Wirtschaft hat sich davon sehr viel versprochen. Oberbürgermeister Reinhard Paß hat den Prozess zur Chef-Sache gemacht und ich muss sagen, ich bin enttäuscht, dass da bisher so gut wie nichts herausgekommen ist. Die gesamten Aspekte, die mit dem Prozess angesprochen wurden wie beispielsweise Urbanität, Stadtentwicklung oder Verkehr sind es alle wert, um daraus eine Zukunftsvision zu entwickeln. Jetzt nämlich müssen die richtigen Weichen für die nächsten 20 Jahre gestellt werden. Doch ich sehe nun die Gefahr, dass eine große Chance vertan wird.