Essen. Für einen katastrophalen Fehler hält der SPD-Schulexperte und frühere Gymnasialleiter Manfred Reimer das Turbo-Abitur und achtjährige Gymnasialzeit (G8). Essens Schuldezernent Peter Renzel hält dagegen, dass es doch kaum Klagen von Eltern gebe.
Während der doppelte Abi-Jahrgang 2013 gerade die kleine große Freiheit bis zu Semester- oder Ausbildungsbeginn genießt, streiten sich die Experten weiter über den besten Weg zum Abitur. Dass die Schüler nach den nun üblichen acht Gymnasial-Jahren (G8) genauso gute Ergebnisse erzielt haben wie Gymnasiasten, die noch neun Jahre (G9) absolvierten, überzeugt etwa den schulpolitischen Sprecher der SPD-Ratsfraktion Manfred Reimer kein bisschen. „Was sagt denn der Abi-Schnitt über Reife, Selbstständigkeit, Organisationstalent?“ Natürlich sei ein gediegenes Schulwissen wichtig: „Aber viele Schüler pauken doch nur für Klausuren und Prüfungen.“
Reimer spricht als Praktiker: 20 Jahre lang hat er das Leibniz-Gymnasium in Altenessen geleitet; 2011 ging er in Ruhestand. Er hatte dort selbst die Verkürzung auf acht Jahre gestemmt. Als die rot-grüne Landesregierung nach dem Machtwechsel in Düsseldorf im Jahr 2010 den Gymnasien anbot, auf neun Jahre zurückzugehen, nahmen nur 13 der landesweit 627 Gymnasien das Angebot an; in Essen allein das Gymnasium Borbeck. Reimers Kollegium erging es wie anderen: „Die Umstellung auf G8 hatte viele Kräfte gekostet, wir waren für eine erneute Kehrtwende zu schlapp.“
Der Druck ist zu groß
Reimer bedauert, dass die Rückkehr zu G9 befristet war. Langfristig könnte es doch sinnvoll sein, wenn in jedem Bezirk ein Gymnasium den längeren Weg zum Abi anbiete. „Ich halte G8 nämlich für einen katastrophalen Fehler.“
Wenn das Elisabeth-Krankenhaus jetzt eine Kopfschmerz-Ambulanz für Kinder und Jugendliche aufbaue, weil immer mehr Gymnasiasten an Migräne leiden, zeige das, dass der Druck zu groß ist. „Ich frage: Was tun wir unseren Kindern mit G8 Gutes an? Ich kann den Ertrag nicht erkennen.“ Schließlich wüssten viele der jungen Abiturienten nach dem atemlosen Weg zum Abi mit 17, 18 Jahren gar nicht, ob oder was sie studieren sollten. Dabei sei dieses frühe Abi mit dem Verlust vieler Freiräume während der Schulzeit erkauft: „Jugendliche sind heute von 8 bis 17 Uhr Schüler, die sollten auch mal was anderes sein dürfen.“
Schuldezernent Peter Renzel kennt die Argumente, dass kein Raum für Musik, Sport und Freizeit bleibe, oder die Gesundheit der Kinder leiden könnte. „Trotz dieser immer mal wieder in den Medien aufflackernden Debatte bekommen wir in Essen diesbezüglich wenig Anregungen aus der Elternschaft.“ Auch sei die Tendenz, Kinder bevorzugt am Gymnasium anzumelden, bisher ungebrochen. Vielleicht zeige die Befragung aller Grundschuleltern, die derzeit ausgewertet werde, ja ein anderes Bild.
"Der Politik fehlt der Mut"
Ohne Anstöße von Eltern oder Schulkonferenzen gebe es für die Stadt als Schulträger keine Möglichkeit, die Initiative zu ergreifen, betont Renzel. Das Schulministerium bestätigt diese Sichtweise: G8 sei der gewünschte Regelfall. Wer sein Abi in neun Jahren machen wolle, könne an eine der landesweit 252 Gesamtschulen gehen.
„Ich habe wenig Hoffnung, dass es eine Rückkehr zu G9 gibt, dafür fehlt der Politik der Mut“, sagt auch Reimer. Und von Renzels Elternbefragung erwarte er hier keine Impulse: Die stelle ja gar keine Frage zur längeren Gymnasialzeit. Umso wichtiger sei es, wenigstens G8 zu entschleunigen, den Schülern Luft zu verschaffen. Auch Renzel hofft, „dass die Lehrpläne weiter entrümpelt werden“. In diesem Punkt immerhin, sind sich die beiden einig.