Essen. Der Bombenkrieg war besonders für kleine Kinder eine schreckliche Erfahrung. Von der beklemmenden Atmosphäre in Bunkern und Kellern berichtet Franz-Josef Stapelmann, der damals erst vier Jahre alt war und mit seiner Familie in Dellwig lebte.
Ich bin fast fünf Jahre alt, da merke ich, was Krieg ist. Hier bei uns in Dellwig in der Vonnemanns Wiese. Alle Häuser sind abends total verdunkelt. Kein Licht darf auf der Straße zu sehen sein. Plötzlich wird die Radiosendung unterbrochen. Sondermeldung. Sirenen heulen. „Achtung! Achtung! Feindliche Fliegerverbände Richtung Ruhrgebiet!“ tönt eine dumpfe Stimme aus dem Volksempfänger. Jetzt heißt es nur noch: Ab in den Bunker!
„Unser“ Bunker liegt rund 200 Meter entfernt an der Prosperstraße. Genauer gesagt liegt er unter der Prosperstraße und unter einem Bahndamm. Ein Abwasserkanal, eine Köttelbecke, fließt dort unter der Straße und unter der Bahnstrecke hindurch. Auf die Kanalumrandung wurden einfach Bretter gelegt und so ein etwa 60 m langer und 1,50 m hoher Unterschlupf geschaffen. Einfache Holzbretter an den Seitenwänden sind die Bänke.
Ich packe Oma, denn Oma ist nachtblind und braucht Hilfe
„Ab in den Bunker!“ ist bald die tägliche Losung. Ich werde für die Nacht überhaupt nicht mehr richtig angezogen. Nur die Schuhe aus und ab ins Bett. Bei Alarm Schuhe an, Jacke an. Alles schnell, schnell.
Meine Oma packt meine Hand, ich packe Oma, denn Oma ist nachtblind. Sie braucht einen, der auch nachts den Weg kennt. Oma braucht mich. So hat es mir jedenfalls meine Mutter gesagt. Vielleicht stimmte es ja auch, vielleicht war es auch nur ein Trick, mir ein wenig die Angst vor dem Grauen des Krieges zu nehmen. Meine Augen haben sich schnell an die totale Dunkelheit gewöhnt. Wir laufen quer durch den Garten, über Gemüserabatte und durch ein Kartoffelfeld. Ich erkenne die Häuser an der Prosperstraße, sehe andere Leute zum Bunker rennen.
Angreifende Flugzeuge setzen Lichtmarkierung, die Christbäume
Da! „Christbäume“! Angreifende Flugzeuge setzen wie bei einem Feuerwerk Lichtmarkierungen. Zielpunkte für die nachfolgenden Bomber. Taghell wird es. Ich kann über dieses Schauspiel nicht staunen. Ich habe Angst.
An einen Bombenangriff erinnere ich mich genau. Es muss Anfang 1945 gewesen sein. Die feindlichen Flieger kommen jetzt schon tagsüber. Sie brauchen nicht mehr den Schutz der Nacht; denn die deutsche Flugabwehr ist praktisch ausgeschaltet. Es ist früher Nachmittag und die Luftschutzsirenen heulen. Kaum sitzen wir auf den Holzbrettern im Bunker, da bricht die Hölle los. Bomben über Bomben schlagen ein, ein Bombenhagel. Die Todesboten pfeifen nach ihrem Abwurf aus den Flugzeugen ein grausiges Lied. Dann der Einschlag. Es rummst und kracht. Die Erde zittert und bebt. Der Bunker wackelt in seinen Grundfesten. Bei jedem Einschlag schreien alle laut auf. Weinen. Schluchzen, Beten.
Die Prosperstraße ist nicht wiederzuerkennen
Endlich ist das Bombardement vorbei. Wir leben. „Wie mag es draußen aussehen? Ob unser Haus noch steht?“ Da fragt Mutter: „Wo ist Opa?“ Ich weiß es nicht. Opa war nicht im Bunker. Nichts wie raus. Die Prosperstraße ist nicht wiederzuerkennen. Das Wohnhaus der Familie Zerres, direkt neben dem Bunker gelegen, ist nur noch ein Trümmerhaufen. Eine Ziege hat überlebt. An einem Baum angeseilt, steht sie laut blökend im Garten.
Opa war nicht im Bunker. Er kam immer etwas später in den Schutzraum, weil er das Haus abschloss. Und manchmal blieb er auch einfach zu Hause, wenn er meinte, so schlimm wird es wohl nicht. Doch diesmal hatte er sich wohl verschätzt. Meine Mutter, meine Oma Anna und ich rannten durch die Gärten zur Vonnemanns Wiese. Was wir sahen, ließ uns Schreckliches ahnen. Überall Bombentrichter, zerstörte Häuser. Und unser Haus? Die Fenster zersplittert, Türen lagen auf dem Hof oder hingen nur noch in den Angeln. Mein Gott, wo ist Opa?
Als wir auf den Hof liefen, sahen wir ihn. Seelenruhig hob er gerade die Kellertür auf und versuchte, sie wieder richtig einzusetzen. Mutter stürzte auf ihren Vater zu und gab ihm eine Ohrfeige. „Mach das nie wieder!“ schluchzte sie. Sie umarmte ihn, drückte und herzte ihn, und Opa sagte nur: „Mädchen, Mädchen! Als ich los wollte, fielen schon die ersten Bomben. Da hab ich mich im Keller verkrochen.“ Und schmunzelnd fügte er hinzu: „Aber seinen Vater schlägt man doch nicht!“ So wurde eine Ohrfeige zum Liebesbeweis.
„Alle Menschen, die ich lieb hatte, eng beieinander“
Bald ging keiner mehr in den Bunker. Die Luftangriffe folgten zu schnell hintereinander. Die Front rückte immer näher. Bottrop war schon eingenommen worden und die Amerikaner hatten ihre Stellung auf der anderen Seite des Rhein-Herne-Kanals in den so genannten Lehmbergen (heute Lehmkuhle) bezogen. Wir lebten nur noch im Keller. Der größte Kellerraum war von meinem Opa, meiner Oma, meiner Mutter und von Verwandten zu einem Ersatzluftschutzbunker umgebaut worden. Mein Vater konnte nicht helfen; er war ja seit 1939 als Soldat.
Wo vorher zentnerweise Kohlen und Kartoffeln lagerten, standen jetzt drei Etagenbetten, aus Holzlatten zusammengezimmert und notdürftig mit Matratzen und Decken versehen: ein Bett für meine Oma, ein Bett für meinen Opa, ein Bett für Mutter und mich.Ich fand das ganz toll, im eigenen Keller zu schlafen und nicht mehr bei jedem Angriff in den Bunker rennen zu müssen. Alle Menschen, die ich lieb hatte, eng beieinander. Nur schade, dass mein Vater nicht dabei sein konnte.
Sandsäcke vor dem Fenster zur Abschwächung der Druckwellen
Die Erwachsenen fanden das Ganze wohl nicht so toll. Sie hatten die Kellerdecke mit vier zusätzlichen Holzbalken abgestützt. Bei einem Bombentreffer sollte die schwere Decke nicht auf uns stürzen. Auch wurden Kartoffelsäcke mit Sand und Erde gefüllt und vor die Kellerfenster gelegt, um mögliche Druckwellen von Luftminen abzuschwächen. Prinzip Hoffnung.
Franz-Josef Stapelmann, Jahrgang 1940
Essen in Trümmern