Essen. Wer im Weltkrieg den Bombenkrieg in Essen miterlebte, unter steter Lebensgefahr zwischen Wohnung, Arbeit und Bunker pendelte, der wurde dieses Trauma nie ganz los. Meine Oma weinte oft, wenn andere fröhlich Böller und Raketen zündeten. Die Knallerei ließ sie an das Erlebte denken.
Meine Oma war keine Frau, die vor anderen Leuten viel geweint hätte. In dieser Generation - sie war vom Jahrgang 1903 - war das nicht so üblich. An einen Tag im Jahr aber übermannte sie die Trauer, und das war der 31. Dezember. Wenn in der Silvesternacht das Feuerwerk losging und auch in Essen alle fröhlich auf die Straßen gingen, dann wurde meine Oma erst ganz still und dann kullerten die Tränen. Die Frage nach dem Warum wischte sie weg, doch wir wussten Bescheid: Die Erinnerung an den Krieg kam hoch.
Die Böller klangen in ihren Ohren wie explodierende Bomben, die Silvesterraketen erinnerten von ferne an die Flakscheinwerfer der Flugabwehr und an die „Christbäume“, mit denen die alliierten Bomberflotten vorab ihr Zielgebiet markierten. Meine Oma war durch die Bombardierungen, die sie in Essen miterlebt hatte, schwer traumatisiert, ohne dass man das damals so nannte.
Im Wochenrhythmus verlor Essen wieder ein Stück seines Gesichts
Vom ersten bis zum letzten Tag des Zweiten Weltkriegs hat sie hier ausgeharrt. Sie hat miterlebt, wie ihre Stadt, die sie so liebte, manchmal im Wochenrhythmus wieder ein Stück ihres Vorkriegsgesichts verlor. Sie lebte in der Spichernstraße im Ostviertel, ganz in der Nähe des Wasserturms am Steeler Berg. Erst noch mit Mann und Tochter, später dann, als Opa Soldat wurde und meine Mutter in die Kinderlandverschickung ging, allein.
Essen in Trümmern
Bis ins Jahr 1943 hinein war Essen immer wieder Ziel kleinerer Angriffe, die punktuell zwar großen Schaden anrichteten, aber dennoch eher Nadelstichen glichen. Ab Ende 1942 aber hatten die Briten dank ihrer neuen Peiltechnik und der „richtigen“ Bombenmischung den Dreh raus, wie sie maximale Zerstörung anrichten und ganze Stadtviertel in ein Flammenmeer verwandeln konnten. Für meine Oma begann eine Existenz in fast permanenter Lebensgefahr, eine jahrelange Daueranspannung, ein unablässiges Hasten zwischen ihrer Wohnung, der harten Arbeit in einer Molkerei und dem Bunker.
Schwere Detonationen, die den Bunker-Beton zum Beben brachten
Sie hatte eine präzise Erinnerung vom Abend des 5. März 1943, als der erste Großangriff über Essen niederging. Das Dröhnen der Bomberflotte war schon zu hören, als sie unter Todesangst als eine der letzten in den Bunker schlüpfte. Sie schilderte lebhaft die schweren Detonationen, die den meterdicken Beton zum Beben brachten, die Sorge, was nach dem Angriff wohl von der eigenen Wohnung übrig war, verbunden mit der Frage, ob man sich vielleicht noch diese Nacht in die bereits große Masse der Obdachlosen würde einreihen müssen.
Nach Stunden im Bunker stand der mühsame Heimweg über Trümmer, der bange Blick beim Einbiegen in ihre Straße, schließlich die Erleichterung: Andere Häuser brannten, aber dieses Haus stand noch. Vom Steeler Berg aus sah sie dann das Inferno der brennenden Innenstadt. Ein Bild, das sie nie vergaß. Und es war ja erst der Anfang, Dutzende ähnlicher Nächte sollten folgen.
Kein Hass auf die Bomberpiloten - Deutschland war es letztlich selbst schuld
Meine Oma sagte mal, sie habe dennoch nie Hass auf die Bomberpiloten da oben gespürt, denn sie habe gewusst, dass Deutschland sich das Elend seiner Städte durch die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs selbst zuzuschreiben hatte. Sie hatte SPD gewählt, solange es ging und wählte wieder SPD als es wieder ging, fühlte sich unschuldig an der dummen Hitlerei und war gottfroh, als eines Tages - es war der 11. April 1945 - die Panzer der US-Armee in langen Reihen von Steele kommend am Wasserturm vorbei in Richtung Innenstadt rumpelten.
Da wusste sie, es ist vorbei. Und sogar das Haus in der Spichernstraße war als eines der wenigen im Ostviertel heil geblieben und steht noch heute. Wenn solche Häuser erzählen könnten... Mann und Tochter kehrten heim und meine Oma lebte ihr Leben. Vergessen hat sie nichts, sie hat viel vom Krieg erzählt. Und einmal im Jahr darüber geweint.
Wie Uschi Gretenkordt im Bunker an der Freiheit überlebte
Uschi Gretenkordz, damals zwölf Jahre alt, berichtet, wie sie den Angriff überlebte:
"Ich, Jahrgang 1933, habe den Krieg in schmerzhafter Erinnerung. Meine vier Brüder, die alle an der Front waren, hörten von den schlimmen Bombenangriffen in der Heimat. Einer war 1944 auf Urlaub und hat einen Angriff miterlebt, und meinte, das ist ja schlimmer als an der Front.
Der harte Winter 1944/45 bescherte uns eiskalte Wohnungen, da es keine Kohle mehr gab. So setzte man sich in der kleinen Küche zusammen in Decken gehüllt. An Aus - und Anziehen war nicht zu denken, denn die Bombenangriffe kamen zu jeder Tages und Nachtzeit. Wenn die Sirenen heulten (Voralarm) musste man schnellen Schrittes gehen, um rechtzeitig den Bunker zu erreichen, man lief etwa 15 Minuten. Oftmals haben wir aber auch auf der Straße oder in einem Vorgarten gelegen, um Schutz zu suchen. Den Tod unmittelbar vor Augen zu haben, das vergisst man nicht. Unser Hoffnungsträger war das Beten.
Vor unserem Haus in Frillendorf, war eine Luftmine niedergegangen, Türen und Fenster lagen umher, die Bordsteine lagen in unseren Betten, das Dach war fast abgedeckt. Wohnen war nun nicht möglich. Nun ging es zu Fuß zu meiner Oma, die nahe der Innenstadt in der Heinickestraße wohnte. Dort fanden wir eine Weile unser neues Zuhause. Die Angriffe gingen unterdessen immer weiter. Im März 1945 dann einer der schlimmsten Angriffe auf Essen. Vater war im Dienst, Mutter lag krank zu Bett, ich war 12 Jahre. Mutter befahl mir, Kind lauf schnell in den Bunker an der Freiheit. </p><p>Ich hatte große Angst ohne Mama zu gehen, aber ich ging. Im Bunker angekommen, Panik, einige fielen die Treppen hinunter, aus der Not heraus nahm mich eine fremde Frau an der Hand, sicher um mich zu beschützen. Die Bomben fielen unentwegt und das Grollen unter unseren Füßen war fürchterlich, es wurde geschrien und geweint. Plötzlich ging das Licht aus, dann eine gespenstische Stille. Die Ordner verteilten Taschenlampen.Lange hat es gedauert, bis wir den Bunker verlassen konnten. Der Angriff war tagsüber. Als wir aus dem Bunker traten, war es nebelig, keiner konnte sich orientieren. Wo war man, wohin gehen? Berge von Trümmern, brennende Häuser, ganze Straßenzüge ausgelöscht. Ein Inferno. Meine Eltern habe ich erst am nächsten Tag wiedergesehen."
Sirenen ängstigen Ursula Hickmann immer noch
"Im März 1943 war ich 10 Jahre alt. Der Großangriff auf Essen lässt mich bis heute nicht los. Wir saßen zu fünft in unserem Kohlenkeller. Aus dem schmalen Schacht über unseren Köpfen wären wir niemals rausgekommen, wäre der Keller in Brand geraten. Als plötzlich die Kellertür aus Holzlatten durch die Luft flog, war es mit meiner Beherrschung vorbei. Ich zitterte am ganzen Körper, konnte das Wasser nicht halten. Zum Glück wurde niemand verletzt. Nach der Entwarnung war der erste Weg raus aus dem Keller zur Wohnung in der ersten Etage. Alles war noch heil, nur ein paar Fensterscheiben waren zerborsten. Meine Eltern nahmen das gelassen. Wir waren glücklich, dass wir noch lebten. Nach dieser Nacht, lebte ich in ständiger Angst. Das Heulen von Sirenen lässt mich immer noch vor Schreck erstarren."
Zeitzeugin Wilma Becker berichtet: Haus zerstört und wieder aufgebaut
Die erste „Luftmine“ fiel kurz nach Kriegsbeginn. Ich erlebte den Angriff in unserem Haus in Altendorf am Holdenweg in der Waschküche. Man hatte diese mit dicken Stempeln (aus Eisenbahnschienen) abgestützt und eine Eisentür eingesetzt. Wir fühlen uns sicher, bis bei diesem Angriff der Putz von Wänden fiel. Da wurde uns klar; hier können wir nicht bleiben. 300 Meter vom Haus entfernt war eine kleine Halde. Drin bauten Steiger von der Zeche einen „Stollen“. Da fühlten wir uns sicher. Die nächsten Bunker befanden sich an der Helenenstraße und an der Anna-Kirche. Da ich bei der Reichsbahn am Bismarckplatz arbeitete, konnte ich bei Tagesangriffen dort im Bunker Schutz suchen. Sechs Wochen vor Kriegsende wurde unsere Abteilung nach Lippstadt in eine Kaserne verlegt. Ansonsten habe ich jeden Angriff in Essen erlebt. Auch das Haus, in dem wir wohnten, wurde 1943 total zerstört. Wir besaßen nur das, was wir am Körper trugen und in der „Bunkertasche“ hatten. Per Anhalter und per Lkw kam ich nach Essen zurück und fiel meinen Eltern in die Arme. Sie wohnten in einer Behelfswohnung. Sehr schnell wurde unser Haus Holdenweg 43 wieder aufgebaut.
Opa starb mit dem Enkelkind im Arm
Eveline Hagemann berichtet:
"Eine kriegswirre Fahrt im April 1944 von Berlin nach Essen. Ab Altenessen mussten wir laufen und laufen über Trümmer, alles war kaputt, bis nach Bredeney zur Beerdigung unseres lieben Opa. Durch Sprengstoff und Phosphor erlitt Opa einen Herzschlag. In seinem Arm hatte er sein 9 Monate altes Enkelkind. Es starb 2 Tage später. Die kleine Lunge hat dem Druck nicht standgehalten. Aufgebahrt in der von Brettern vernagelten Küche, standen Opas Sarg und der kleine Sarg meiner Cousine Ute. Ich war sieben Jahre alt und kann diese schreckliche Zeit nicht vergessen."