Essen. Im achten Teil der NRZ-Serie über die Kriegsgeneration erinnern sich Norbert Küpper und Friedrich Bremmenkamp an Gräueltaten während der Reichspogromnacht und an die Niederlage in Stalingrad.
Die Art und Weise, in der Norbert Küpper seine Lebenserinnerungen verfasst hat, lässt erahnen, welchen Beruf er sein Leben lang ausgeübt hat. Der mittlerweile 81-jährige Pensionär hat einen Brief mit handschriftlichen Aufzeichnungen zugeschickt. Darauf sind einzelne Passagen mit roter Farbe durchgestrichen, am Rand gibt es häufig kleine Notizen, zwischendurch sind Klammern gesetzt und am Ende gibt es eine persönliche Notiz.
Studiendirektor bleibt halt Studiendirektor. „Mittlerweile habe ich über 300 Seiten geschrieben, aber im Text bin ich erst 30 Jahre alt“, sagt Küpper lächelnd. Einige Kapital stehen also noch aus. Der Teil über die 30er und 40er Jahre ist bereits fertig und über diese Zeit schreibt Küpper beispielsweise: „Die wichtigste Erschütterung löste in Essen nicht ein Bombenangriff aus, obwohl es davon immer mehr gab, sondern die Niederlage der deutschen Soldaten in Stalingrad. Die gesamte 6. Armee war besiegt worden!“
Viele Häuser waren den Bomben zum Opfer gefallen
Der Zeitzeuge erinnert sich daran, wie er von der Schule nach Hause kam, eine Zeit lang niemand etwas sagte und Tante Maria plötzlich weinte. „Ihr Mann war vermisst und mit einem Schlag wurde allen klar, dass Hitler sich übernommen hatte. Aber darüber sprechen durfte man natürlich nicht“, erklärt Küpper. Zu der Zeit standen in den Schaufenstern der Geschäfte mannshohe Pappfiguren und quer darüber der Schriftzug „Psst: Feind hört mit!“ Im Januar 1943 waren bereits viele Häuser den Bomben zum Opfer gefallen und oft war nur noch der untere Sockel übrig geblieben. Die bisherigen Bewohner notierten darauf in der Regel ihre neue Anschrift, oder schlicht die entscheidende Nachricht: „Wir leben alle.“
Am 5. Februar 1943 heulten wieder die Sirenen und Norbert Küpper sprang aus seinem Bett. „Wir sahen hinter der Verdunklung durch einen Schlitz, und da stand er schon über der Kruppschen Fabrik, der gefürchtete ‚Christbaum’. Das waren helle Lichter, rot, grün und mehrere in gleißendem Weiß. Jetzt wussten die angreifenden Flieger, wo sie ihre Bomben abzuladen hatten.“ Die Familie rannte zum nächstgelegenen Tiefbunker am oberen Ende der Liebigstraße in Holsterhausen.
Gepacktes Köfferchen mit wichtigen Unterlagen
Zum stetigen Begleiter wurde ein bereits gepacktes Köfferchen mit wichtigen Unterlagen, Sparbüchern, Wertsachen und dem Fotoapparat. Unter Tage erlebte der damals Zehnjährige dann das scheinbar endlose Warten zwischen Angst, Schlaf, Traum und Kälte.
Als Küpper wieder nach oben stieg, stellte sich die Frage, was mit dem eigenen Haus war. Stand es noch? Es stand. „In der Böttgerstraße brannten zwei Häuser und Funken flogen zu uns rüber. Ein Bergmann, der nicht in den Krieg musste, kam zu uns gelaufen und rief: ‚Jungs, kommt, ihr müsst mir helfen.“ Mit einem nassen Lappen löschte Küpper die Funken, um zu verhindern, dass die Flammen auch auf die eigenen vier Wände übergriffen. Wenige Tage später wurden er und seine drei Geschwister evakuiert. Als der NRZ-Leser seine Heimatstadt verlassen musste, fühlte er sich wie ein Verräter. „Essen in Not und ich ging einfach weg“, schreibt der promovierte Pädagoge in seinen Erinnerungen.
1945 kam Küpper zurück. Bereits nach wenigen Tagen begann der Unterricht an der Alfred-Krupp-Schule. Der damalige Rektor entließ gleich am ersten Tag 15 Schüler, weil sie sich geweigert hatten, Kohle zu transportieren, damit die Schule geheizt werden konnte. Küpper, der viele Jahre später den Holsterhauser Bürgerbund gründete, war von derartigen körperlichen Arbeiten befreit - nur die älteren Jahrgänge waren dafür abkommandiert. Das Wort Kommando beschreibt die Atmosphäre nach Ansicht von Küpper sehr gut. „Ich nehme es den Lehrern nicht übel, dass sie während des Krieges in der NSDAP waren. Das mussten sie im Grunde tun. Aber was mir sehr missfallen hat, war die Haltung, mit der man uns noch Jahre später begegnete. Das hatte wirklich etwas von einer Armee. Vielleicht bin ich auch genau deshalb Lehrer geworden, um es anders zu machen.“
Friedrich Bremmenkamp arbeiteteviele Jahre lang bei Krupp
Friedrich Bremmenkamp und Franz Soodmann (aus Teil 4 der NRZ-Serie) waren Arbeitskollegen, ohne es zu wissen. Beide waren zeitgleich als Laufburschen bei der Kruppschen Artilleriekonstruktion und brachten Papiere von einem in das andere Büro. Mindestens 50 junge Kerle wuselten damals ständig durch die Fabriken und meldeten sich dann damit bei „Kanonenmüller“, dem strengen Abteilungsleiter der AK Nord. Der 90-jährige Bremmenkamp weiß auch so manche Geschichte von der Villa Hügel zu berichten, denn auch dort mussten häufig Unterlagen abgegeben werden und dafür war eine Belohnung vorgesehen – eigentlich. „ Die Akten wurden auf einem Fahrrad transportiert, das hinten einen Aufbau in Form eines großen Holzkastens hatte. Das war keine einfache Fahrt und der alte Krupp hatte deshalb angeordnet, dass jeder Laufbursche 5 Pfennig Trinkgeld ausgehändigt bekommen sollte. Aber je nachdem wer in der Pforte saß, gab es weniger oder gar nichts“, erinnert sich Friedrich Bremmenkamp.
Der 90-Jährige wohnt in Frohnhausen, gerade mal 200 Meter von seiner Tochter, dem Schwiegersohn und den Enkelkindern entfernt. Über die Generation ihres Vaters sagt Birgit Bremmenkamp: „Das sind alles Menschen, die im Grunde ihr ganzes Leben über gearbeitet haben. Erst jetzt im Alter kann einiges nachgeholt werden, wofür vorher keine Zeit war.“
Werbeaktionen der NSDAP
Oft sitzt die Familie abends zusammen, Friedrich Bremmenkamp redet dann über alte Zeiten. Da ist zum einen die Schulzeit mit den damals noch streng nach Konfessionen getrennten Klassen. Morgens trafen sich die Kinder aus der Umgebung, um gemeinsam zur Schule zu laufen – die Unterführung an der Burggrafenstraße war schon in den 30er Jahren nicht sonderlich einladend. Später beobachtete Bremmenkamp die Werbeaktionen der NSDAP. „Die brachten Erbsensuppe und verteilten reichlich Zigaretten. Wir hatten zu der Zeit sieben Millionen Arbeitslose, da kamen solche Lockmittel bei den Leuten natürlich gut an.“
Es dauerte nicht lange, da ging es nicht mehr um Gulaschkanonen, sondern um Leben und Tod. „Ich habe gesehen, wie die Synagoge gebrannt hat“, berichtet NRZ-Leser Bremmenkamp. Während der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 steckten die Nationalsozialisten unter anderem die Synagoge an der Steeler Straße in Brand. Mit tausenden anderen Essenern war Bremmenkamp bis zu den Absperrungen gelaufen: „Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde die Feuerwehr den Brand löschen. Dabei konnte jeder sehen, dass die Einsatzkräfte den Schlauch ganz woanders hin hielten und die Feuerwehr nicht löschte. Das Wasser schoss einfach in die Luft. Mir waren schon am Vormittag Leute entgegen gekommen, die plötzlich Zigarrenkisten unterm Arm trugen und in der Innenstadt lag das Mobiliar aus jüdischen Geschäften auf der Straße“, erzählt der Frohnhauser.
Irrsinn des Krieges
1942 wurde Bremmenkamp Soldat. Schon seine Fahrt an die Ostfront macht den Irrsinn des Krieges deutlich. „Als wir in Polen hielten, kam eine ganze Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter zu uns an den Waggon und bettelte um Essen. Unter ihren Jacken hatten die ganz dünne Blechbüchsen. Wir gaben alle etwas von unserer Suppe ab, was später von irgendwem verraten wurde. Zur Strafe erhielten wir bis zu unserer Ankunft in Russland nicht einen einzigen Krümel Brot.“ Als die Truppe ihr Ziel erreicht hatte, mussten Lebensmittel und Waffen abtransportiert werden. Da nun aber mehr Vorräte da waren als getragen werden konnten, blieb ein großer Teil einfach zurück.