Essen. . Im sechsten Teil unserer Serie über die Kriegsgeneration berichten zwei Essener Frauen über ihre jugendlichen Gefühle: Ruth-Bärbel Schmitz gab dem falschen Mann einen Strauß Nelken und Cousine Annemarie Vinck erhielt eine Autogrammkarte von einem Filmstar.
Verwechslungen passieren immer wieder. Wahrscheinlich hat jeder von uns schon mal irgendwen angesprochen und eigentlich eine ganz andere Person im Sinn gehabt. Ruth-Bärbel Schmitz ist nicht traurig darüber, dass sie einen Streifenpolizisten für Adolf Hitler hielt und darauf bestand, diesem einen Blumenstrauß überreichen zu dürfen. „Meine Mutter kaufte ein Bündel Nelken und ging mit mir zu der Straße, durch die der ,Führer’ kommen sollte. Dort säumte bereits eine breite Menschenmenge die Straßenränder. Da stand ich nun fein angezogen unter den großen fremden Leuten. Ich war voller Unruhe, denn meine Mutter hatte mir einen großen Auftrag mitgegeben. Sie hatte gesagt, ,wenn der Führer kommt, läufst Du zu ihm und gibst ihm die Blumen!’ Der Führer! Wer war das wohl? Ich sah mich aufgeregt um. Da stand ein Mann, dicht neben mir, in einer prächtigen grünen Uniform und hatte einen Riesen-Tschako auf. Das musste er sein,“ schreibt die inzwischen 83-Jährige.
Jahrzehnte später mag man sich fragen, wie jemand Adolf Hitler nicht erkennen konnte, die Heidhauserin hat darauf aber eine Antwort: „Damals war ich vielleicht sechs Jahre alt, Fernsehen gab es noch nicht und Zeitung habe ich als Kind nicht gelesen. Ich war einfach furchtbar nervös und froh, meine Blumen überreicht zu haben. Der Polizist wollte die Blumen ja erst gar nicht haben, später kam meine Mutter zu mir, fragte mich, wo die Blumen seien und nahm sie dem Polizisten einfach wieder weg. Dem Mann war das alles sehr peinlich.“
VHS-Kurse über biografisches Schreiben
Schon seit mehr als zehn Jahren besucht Schmidt einen Kurs für biografisches Schreiben an der VHS Velbert. Ihre Lebenserinnerungen hat sie in vielen kleinen Erzählungen festgehalten. Erst durch das Schreiben konnte sie mit einigen Schicksalsschlägen abschließen . Ein großer Teil der Texte handelt von Südafrika, wo unsere Zeitzeugin rund 20 Jahre lang mit ihrem Mann lebte und als Fremdsprachenkorrespondentin arbeitete. Auch seine Erlebnisse hat sie aufgeschrieben, darunter eine Geschichte von der ersten Begegnung mit amerikanischen Soldaten, dem Abgeben der Waffen und der Zeit in Gefangenschaft. Über die Bomben notierte Ruth-Bärbel Schmitz Folgendes:
„Meine Mutter fanden wir im Kellergang des Krankenhauses auf einer Matratze. Das Krankenhauspersonal hatte unter größtem Einsatz alle Kranken in den Keller getragen. Das Hospital war nicht zerstört, alle lebten noch. Ich kniete neben meiner Mutter nieder und gab ihr einen Kuss. Eine Faust in mir hielt meine Gefühle eisern fest. ,Hallo Mutti,’ sagte ich. Keine Tränen, ich handelte ganz mechanisch. Ich dachte nicht daran, was mit meiner Mutter wohl jetzt geschehen würde. Ich stellte mir nicht vor, ob sie Schmerzen hatte, ob ich sie jemals wiedersehen würde. Zwölf Jahre alt war ich damals. Ich war das einzige Kind meiner Eltern und meine Mutter war mir der liebste Mensch auf der Welt. Erst heute kann ich Schmerz über den Verlust empfinden, der bald darauf eintreten sollte, und über die Situation dort im Keller.“
Annemarie Vinck will in ihrem Leben nie mehr Rübensirup essen müssen
Das Verwandtschaftsverhältnis von Ruth-Bärbel Schmitz und Annemarie Vinck ist recht kompliziert. „Schreiben Sie einfach Cousinen, das ist einfacher“, sagt Vinck, die ebenfalls einen Schreibkurs an der Volkshochschule besucht hat. Auch ohne das Seminar hätte es Vinck womöglich zur Schriftstellerin bringen können. Die 85-Jährige hat mehr als 200 Texte verfasst und eine bunte Auswahl an Fotos und Erzählungen via Email an die Redaktion verschickt. Den Umgang mit dem Rechner hat sie sich selbst beigebracht. 1928 kam Vinck in Essen zur Welt, zog dann 1937 nach Rheinhessen aufs Land und kam 20 Jahre später wieder zurück in ihre Heimat. „Seitdem wohne ich im gleichen Haus am Stadtwald“, sagt die vierfache Mutter über sich selbst.
Ihre Kinder durften nie Rübensirup essen – so groß ist die Abneigung gegen „diesen scheußlichen Süß-Ersatz“. Auch sie selbst will nie wieder einen Löffel anrühren. Viel zu oft musste sie von der dunkelbraunen Masse kosten. In Erinnerung geblieben sind Vinck vor allem auch die Waschtage, die sich tatsächlich über mehrere Tage hinzogen:
„An den Samstagen verwendete man das gebrauchte Badewasser zum Schrubben des Hofes oder zumindest der Fläche vor der Küche und zum Entfernen des Taubendrecks. Am Sonntag kochte Großmama im Kupferkessel, der auch zum Kochen bei der Hausschlachtung herhalten musste, die ersten Partien Weißwäsche. Am Montag ging es dann richtig los! Da keine Waschküche vorhanden war, alles im Freien stattfand, wurde während der Winterzeit Wäsche gehortet. In der Scheune stand ein alter Holztisch. Darauf wurde die am Vortag bereits gekochte Weißwäsche mittels Bürste und Schmierseife bearbeitet. Danach füllte man sie zusammen mit heißer Lauge in die bereitstehende Waschmaschine,“ schreibt Annemarie Vinck.
Taschengeld für Autogrammkarten geopfert
Diese Waschmaschine war im Grunde nichts anderes als ein großes Holzfass auf drei eisernen Beinen. Unsere Zeitzeugin kennt noch heute alle Tricks, mit denen man Kleider auch ohne Waschpulver sauber bekommt: „Man nimmt frische Kastanien und schneidet sie in ganz kleine Würfel, übergießt sie mit Wasser und lässt alles über Nacht stehen. Für dunkle Kleidung verwendet man besser eine Lauge aus frischen Efeu-Blättern. Eine weitere Methode war es damals, Buchenholz zu verbrennen, die weiße Asche durchzusieben und über Nacht in Wasser stehen zu lassen.“ Die NRZ-Leserin denkt gerne an ihre Schulzeit zurück und wie sie begann „sich für das andere Geschlecht zu interessieren.“ Wie auch viele junge Frauen heute, schwärmte die damals 14-Jährige für Filmschauspieler. Besonders hoch im Kurs standen Hannes Stelzer, Rudolf Prack und Joachim Brennecke. Um an ein paar Autogrammkarten zu kommen, opferten die Mädchen ihr Taschengeld. „Eines Tages schickte Joachim Brennecke mir sein Konterfei zurück und hatte außer seinem Namen zusätzlich noch das Wort ,Herzlichst’ geschrieben – das war sensationell,“ berichtet sie lächelnd.
Auf Vincks Nachttisch stand allerdings ein anderer Filmstar – Hannes Stelzer, dessen Nachnamen sie überklebte und ihn so als ihren festen Freund ausgab. Und es gab noch einen anderen Mann: „Es gab da einen blendend aussehenden Jungen mit Namen Klaus Geibel. Der Angebetete hat nie im Leben erfahren, dass er der Traum unserer schlaflosen Nächte war. Damit unsere Klassenkameraden nicht merkten, dass wir von Jungen sprachen, gaben wir denen, die unser Interesse fanden, Mädchennamen. Klaus war Hulda und sein Bruder Berta.“