Essen. . Teil 5 unserer Serie über die Kriegsgeneration. Die beiden NRZ-Leser Otto Groß und Ursula Geerling berichten über die 30er und 40er Jahre. Eine Geschichte über einst populäre Kinderspiele, Notunterkünfte und die Arbeit im Familienbetrieb.

Der Küchenschrank von Otto Groß könnte wahrscheinlich so manche Geschichte erzählen. Seit 80 Jahren steht das schwere Möbelstück bereits an der gleichen Stelle, weshalb es immerhin theoretisch denkbar wäre, den Küchenschrank selbst zum Zeitzeugen zu berufen. Unsere wirkliche Hauptfigur ist ebenfalls 80 Jahre alt und wohnt schon von Geburt an auf der Hurterstraße. Nur einmal, während des Krieges, kam Otto Groß woanders unter. Aber alles der Reihe nach.

Als Kind, so berichtet der redselige Frohnhauser, habe er allerlei dumme Sachen gemacht. „Wir sind in verlassene Panzer geklettert und haben scharfe Munition angezündet. Ein Glück, dass da nie was bei passiert ist.“ Kriegsspiele gab es wahrscheinlich schon immer, nur dass sie heute meistens am Computer stattfinden. „Damals standen wir an der Ecke und hörten die Frontnachrichten wie heute die Sportergebnisse“, erzählt Groß.

Im Keller Schutz gesucht

Es mag kaum überraschen, dass sich Kinder in dieser Atmosphäre besonders gerne gegenseitig den Krieg erklärten, mit dem Ziel, den anderen Spielern möglichst viel Land wegzunehmen. „Mit Kreide wurde ein Kreis mitten auf die Straße gemalt. Nach Anzahl der Mitspieler wurde dieser in gleichgroße Segmente unterteilt. Dann wurden Ländernamen verteilt“, erinnert sich unser Zeitzeuge. „Mit dem Fuß gerade noch so sein Landsegment berührend, stellte man sich, zum Weglaufen bereit, um den Kreis verteilt auf. Deutschland fing an und erklärte den Krieg gegen beispielsweise England. Alle Kinder rannten weg, bis auf den Vertreter Englands. Der musste in die Mitte des Kreises rennen und laut ,Stopp’ rufen.“

Groß hat seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Eine besondere Rolle spielt dabei seine Wohnung und damit letztendlich auch der Küchenschrank. Ein Familienmitglied hatte das Möbel einst gezimmert, während des Krieges bekam das dunkle Holz dann einige Kratzer durch Bombensplitter und heute stehen darin bunte Tassen vom Essener Weihnachtsmarkt.

Der NRZ-Leser beschreibt in seinen Aufzeichnungen etwa, wie die Wohnung verdunkelt werden musste, wie seine Familie dann mit der Taschenlampe im Keller Schutz suchte und wie seine Mutter bei einem Bombenangriff in völliger Panik zurück in die Wohnung rannte, weil sie dachte, das eigene Haus stünde in Flammen. Im Keller spielte Groß meistens Quartett, manchmal versuchte er auch zu schlafen. Draußen suchten Scheinwerfer den Himmel ab und Fesselballons sollten die feindlichen Bomber stören. Nach den Angriffen lief Groß meistens auf die Halde einer benachbarten Zeche und begutachtete die Flak-Kanonen um zu sehen, ob dort ein neuer Abschuss mit Farbe an das Rohr gepinselt worden war.

Rückzug der deutschen Streitkräfte miterlebt

„Statt auf der Straße spielten wir zunehmend in den Trümmern. Ich erkletterte manche Ruine um an die Dachrinnen zugelangen. Auch die Kupferleitungen waren vor uns Jungs nicht sicher,“ berichtet Groß. Bereits als Siebenjähriger sammelte er Zigarettenstummel, um sie mit den Kruppschen Zwangsarbeitern zu tauschen, die nachmittags über die Giesebrechtstraße gelaufen kamen. „Ich fuhr mit meinem Ruderrenner vor die Kolonne und schüttete die Kippen auf die Straße. Zum Glück sagte der Vorreiter nichts. Als Dank für die Stummel bekam ich dann geschnitzte Holzvögel.“

1943 kam die Familie nach Bayern. Unser Zeitzeuge sah dort den Rückzug der deutschen Streitkräfte, beobachtete Plünderungen und war dabei, als ein Bauer sich mit weißer Fahne vor das Dorf stellte und die Ortschaft kampflos an die Amerikaner übergab. „Uns Kindern warfen die Soldaten Schokolade und Kaugummi zu. Wir blonden Kinder wurden richtig bewundert.“

Nach dem Krieg kam Groß wieder rasch nach Essen und zurück in die alte Wohnung. Eine Szene aus dieser Zeit ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: „Die Brücke an der Berliner Straße war im Krieg zerstört worden, aber als wichtige Verbindung zwischen Frohnhausen und Altendorf wurde sie schnell wiederhergestellt – leider nur mit einem sehr schlechten Geländer. Ein Kleinkind krabbelte herum und stürzte zu Tode. Als Nachbarkinder trugen wir es zu Grabe.“

Ursula Geerling wohnte eine Woche lang im Güterwaggon 

Zu dieser Zeit hauste Ursula Geerling rund eine Woche lang in einem Güterwaggon. Die damals 16-Jährige war mit Mutter und Schwester ins Sauerland gefahren, um dort Brennholz zu sammeln. „Mein Onkel war bei der Bahn, dadurch sind wir überhaupt an den Wagen gekommen. In der einen Ecke des Waggons lagerte also das Holz und auf der anderen Seite wohnten wir. Es gab einen kleinen Kanonenofen und meine Mutter holte für uns täglich Wasser von der Lokomotive,“ berichtet die heute 84-Jährige.

Der Zug brachte die Familie schließlich nach Kevelaer. Dort traf Ursula Geerling wieder auf ihren Vater, der dort zuletzt stationiert gewesen war. Unsere Zeitzeugin besuchte weiter die Schule und arbeitete schließlich als Landwirtschaftsgehilfin, bevor sie 1959 wieder nach Essen zog. Dort hatte die Familie bei einem der schwersten Luftangriffe im März 1943 ihre gesamte Existenz verloren, darunter auch das Hotel „Zum Falken“, das damals am Viehofer Platz stand.

„Mein Vater war beim Militär und auch unser Personal war eingezogen. Zu der Zeit ging ich auf die Luisenschule am Bismarckplatz, nach Schulschluss habe ich aber immer im Hotel ausgeholfen“, erzählt die NRZ-Leserin. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Zimmer aufzuräumen, Frühstück zu machen und auch sonst mitzuhelfen. Auf einem alten Werbeblättchen, dass uns Ursula Geerling geschickt hat, steht, „30 Betten / Fließendes Wasser / Zentralheizung / Kalte und warme Küche / Gepflegte Getränke“.

Brandbomben fielen durch Lichtschacht ins Treppenhaus

In den besseren Tagen logierten dort Dompteur und der Direktor vom Zirkus Hagenbeck, während des Krieges wohnten hauptsächlich Maschinenbaustudenten in dem fünfstöckigen Haus. Bezahlt hat dafür die Wehrmacht. Der Luftschutzkeller war entsprechend groß dimensioniert und mit Holzstempeln verstärkt. „Es war ein Freitagabend, ziemlich genau um halb neun. Wir hatten gerade gegessen und meine Mutter war dabei, unsere Wertsachen in Kisten zu packen. Die Sachen sollten anschließend in den Keller getragen werden, aber dazu kam es gar nicht mehr,“ erinnert sich Geerling noch immer spürbar mitgenommen.

„Der Alarm kam so plötzlich, dass wir nur das mitnehmen konnten, was wir am Körper trugen. Die Brandbomben fielen dann durch den Lichtschacht ins Treppenhaus und wir konnten mit ansehen, wie das Haus in Flammen aufging. Meine Mutter ist noch mit ein paar Leuten in die erste Etage gerannt und hat dort jede Menge Zeug aus dem Fenster geworfen. Wir Kinder saßen im Keller vom ‘Hotel Reichskrone’, das unterirdisch mit unserem Haus verbunden war. Von dort haben wir alles mit angesehen. Löschen konnte man da gar nichts mehr, weil vor dem Haus eine Luftmine runtergegangen war und die Hauptwasserleitung zerstört hatte. Wir hätten zwar die Feuerwehr anrufen können, aber die kam zu der Zeit natürlich nicht. Die ganze Stadt brannte ja.“

Noch in der selben Nacht lief Geerling mit ihrer Familie zu den Großeltern nach Rüttenscheid. Die geretteten Wertgegenstände zogen sie auf einer Schubkarre hinter sich her. Bei diesem einen Angriff wurden über 3.000 Gebäude zerstört und mehr als 400 Menschen getötet. Die Familie wurde enteignet, das Grundstück ist unbebaut. Ursula Geerling wohnt heute in Kray und hat zwei erwachsene Kinder.