Essen. Zehn „Stille Helden“ aus Essen stellt der Historiker Walter Kern in seinem Buch vor. Die NS-Widerständler reichen von der Heisinger Bergmannswitwe, über einen Steeler Kaplan bis hin zum Unternehmerpaar Beitz.
Er war ein Fremder und doch ließ sie ihn in ihr Haus – und riskierte damit ihr Leben. Karl Ayon war polnischer Bergarbeiter aus Borbeck, der wegen seiner jüdischen Herkunft ins Visier der Nationalsozialisten geraten war. Mathilde Essenberg eine Bergmannswitwe aus Heisingen, die dieser Ungerechtigkeit die Stirn bot. Beide zusammen sind eines der Paare, die Walter Kern in seinem Buch über die „Stillen Helden“ aus Essen wieder zusammenführt.
Zehn Fälle dieser Art hat der pensionierte Geschichtslehrer teils selbst recherchiert, teils aus anderen Werken zusammengetragen. Die Zahl mag bekümmern bei einer Einwohnerzahl von 650.000 Essenern vor dem Krieg. „Es sind tatsächlich wenige, die geholfen haben“, weiß Walter Kern. Umso wichtiger sei es aber, sich an sie zu erinnern. Viele der „stillen Helden“ seien aber wohl auch noch nicht entdeckt. „Über diesen Widerstand wurde lange Zeit gar nicht gersprochen, weil es niemand hören wollte. Die Leute wollten lieber bei der Vorstellung bleiben, dass man sowieso nichts hätte tun können“, erklärt Kern, der bis vor Kurzem noch an der Frida-Levy-Gesamtschule in Essen unterrichtete.
Beispiele von mutigen Bürgern aus ganz Essen
Das Buch kann auch im Unterricht seinen Platz finden. „Die Schüler sollen nicht nur die Verbrechen sehen, sondern auch die Menschen wahrnehmen, die für andere ihr Leben riskiert haben“, erklärt der 65-Jährige. Die Geschichten aus der eigenen Stadt könnten die jungen Leute auf besondere Weise in die Vergangenheit hineinziehen.
Aus ganz Essen hat der Historiker Beispiele von mutigen Bürgern zusammengetragen. Aus Altenessen, Rüttenscheid, Stadtwald oder dem Südviertel stammen seine Helden. Die Jüdische Gemeinde damals zählte 5.000 Mitglieder, weit über 1.000 wurden während des Krieges in östliche Lager deportiert. Erscheinen soll das Buch innerhalb dieses Jahres. Herausgeber ist die Alte Synagoge in Essen.
In seinem Werk erzählt Kern jeweils auf wenigen Seiten die Geschichte des Verfolgten und die seines Retters. Eine dieser Tandem-Erzählungen ist die des jungen polnischen Bergmanns Karl Ayon und der Witwe Mathilde Essenberg. Als Ehemann einer Christin konnte sich Ayon in den ersten Kriegsjahren in der „geschützten Mischehe“ in Sicherheit fühlen. Auf der Zeche Carolus Magnus in Borbeck erwirtschaftete er für seine Frau und den gemeinsamen Sohn Engelbert den Lebensunterhalt. Doch schon bald sollte der jungen Familie die Herrschaft der Nationalsozialisten ein erstes Mal zum Verhängnis werden. Denn Engelbert besuchte eine jüdische Volksschule, was ihn in der queren NS-Sicht zum „Geltungsjuden“ machte, wonach er wiederum als „Volljude“ behandelt wurde.
Vom Bergmann zum Zwangsarbeiter
Am 13. April 1942 lud die Gestapo alle Borbecker diesen Merkmals ins Gemeindezentrum – samt Reisegepäck. 17 Jahre war Engelbert alt, als er zur „Abwanderung in die Ostgebiete auf Arbeitseinsatz“ geschickt wurde. Die Eltern sahen ihn nie wieder. Wenige Postkarten aus unterschiedlichen Durchgangslagern waren das letzte Lebenszeichen. Danach verlor sich die Spur.
Karl Ayon wurde schon bald vom Bergmann zum Zwangsarbeiter im Straßenbau degradiert. Am 17. Dezember 1944 startete das NS-Regime die letzte Deportation jüdischer Menschen aus Essen. Karl Ayon wäre dabei gewesen, hätte er nicht wenige Tage vorher einem Kumpel seine verzweifelte Lage anvertraut. Denn dessen Schwägerin war die Bergmannswitwe Mathilde Essenberg. „Bring den hierhin, der kann bei mir wohnen“, hatte sie sofort gesagt.
Acht Monate in Angst und Schrecken
In einem Unterstand im Garten verbrachte Ayon bis zum Ende des Krieges acht Monate. Immer wieder wurde der Mut der alten Dame auf die Probe gestellt, wenn jemand Verdächtigungen anstellte oder gar die Gestapo auf der Matte stand, um unter Vorwänden ihr Haus zu durchsuchen. Doch sie blieb standhaft und Ayon überlebte.
Das Spannende an den „Stillen Helden“ sei, dass sie so unterschiedlich sind, erklärt Kern. Da war das Unternehmerpaar Beitz, das Hunderten von Juden Arbeitsausweise ausstellte und sie damit vor dem sicheren Tod bewahrte. Da waren Krupp-Mitarbeiter, die ungarischen Flüchtlingen halfen, Priester, die ganze Gruppen von Menschen versteckten, oder auch ein einzelner Essener, der einen jungen jüdischen Mann regelmäßig in einem Lager in Ostpolen besuchte, ihm Kleidung brachte und seinen Freunden in Essen Grüße übermittelte. Was ihn aber bei allen gleichermaßen beeindruckt hat, sei die enorme Selbstverständlichkeit gewesen, mit der die Menschen im entscheidenden Moment geholfen haben, fasst Kern zusammen.
Eine Figur, die der Historiker bei seinen Recherchen besonders beeindruckt hat, war der Kaplan Joseph Emonds. Mit 30 Jahren kam der junge Mann 1928 in die Gemeinde St. Laurentius in Steele. „Er war eine herausragende Figur“, meint Kern. „Ein aufrechter, widerständiger Mann, ein riesiger Kerl vom Bauernhof, der so beeindruckend predigte, dass es in der Kirche mucksmäuschenstill war“, weiß Walter Kern aus seinen Recherchen.
Steeler Kaplan leistete Widerstand
Als 17-Jähriger habe er im Ersten Weltkrieg gedient und das „grauenhafte Massensterben“ miterlebt. „Er war beseelt von der Idee, dass endlich Frieden sein muss“, erzählt Kern. Durch sein Engagement in der katholischen Jugendarbeit war er den Nazis gegenüber skeptisch. Im Mittelpunkt seines Glaubens stand, Menschen in der Not zu helfen. Er besorgte Pässe, vermittelte Verfolgte in sein Heimatdorf bei Erkelenz und engagierte Helfer, die Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien oder Holland brachten. Unbeirrbar ertrug er Gestapo-Verhöre, man schmierte ihm sogar Parolen an die Hauswand. „Doch er hat niemals klein beigegeben“, erzählt Kern.
Eine der Verfolgten, für die sich Joseph Emonds einsetzte, war Toni Marcus aus Steele. Die ursprünglich jüdische ältere Dame hatte sich aus Überzeugung katholisch taufen lassen. Während nach der Pogromnacht viele der Juden nichts dringender wollten, als das Land zu verlassen, war die Flucht für Toni Marcus keine Option. Sie fühlte sich als Mitglied der katholischen Kirche, als Essener Bürgerin, als Deutsche. Doch die Situation spitzte sich zu. Joseph Emonds überredete die Steelerin, auf dem Hof seiner Familie Unterschlupf zu suchen. Doch die Nachbarschaft witterte nach einiger Zeit, dass die ältere Dame nicht einfach nur zu Besuch bei den Emmonds war und setzte die Familie unter Druck. Toni Marcus entschied sich wieder nach Steele zurückzukehren. 1942 brachte man sie in das Barackenlager „Hohlbergshof“ in Steele und später nach Theresienstadt. Familie Emonds versuchte sie auch weiterhin mit Kleidung, Essen und Briefen zu unterstützen. 1944 starb Toni Marcus in Auschwitz.
Aus Freundschaft wurde Widerstand
„Das Engagement hat nicht in allen Fällen ausgereicht, um den Verfolgten das Leben zu retten“, weiß Walter Kern. Das Wichtigste sei aber, dass bei all den mutigen Helfern Freundschaft, christlicher Glaube und Menschlichkeit höher gehalten wurden, als die von den Nationalsozialisten verbreitete Rassenideologie. Kern ist überzeugt: „Das hier sind Erinnerungen mit Zukunft“.