Essen. Eine Doppelstrategie soll die Trinker- und Drogenszene aus der Essener City verbannen: Null Toleranz und Hilfe à la Amsterdam. Wichtiger als Bier ist den Betroffenen aber das Gefühl, wieder Teil der Gesellschaft zu sein. Gespräche auf dem Willy-Brandt-Platz am Hauptbahnhof.
„Putzen für Bier“, „Dosenbier für Trinkerszene“: Grelle Schlagzeilen wie diese bescheren Essen bundesweite Aufmerksamkeit. Um die Trinkerszene am Willy-Brandt-Platz und anderswo aufzulösen, will die Stadt vom Frühsommer an denselben ungewöhnlichen, gewagten Weg beschreiten wie Amsterdam. Dort erhalten Alkoholkranke Bier, wenn sie Parks und Plätze, Straßen und Spielplätze in Ordnung halten. Eine Initiative, die polarisiert: helle Empörung und Kopfschütteln hier, leises Wohlwollen dort.
Im Folgenden kommen diejenigen zu Wort, denen das Projekt neue Perspektiven geben will: Menschen, die die Sucht voll im Griff hat. Die Sucht nach Pils und Pillen, Haschisch und Heroin. Menschen, deren Lebensläufe krass abweichen von der bürgerlichen Norm. Sie sind Gestrandete, Erschöpfte und erscheinen oft wie hoffnungslose Fälle.
Doch den meisten geht’s gar nicht um die geschenkte Pulle Bier, sondern um Wärme und Würde. Sie wollen nicht „Pack“ und „Abschaum“ sein, sondern das Gefühl haben, wieder Teil der Gesellschaft zu sein. Das ist leichter gesagt als getan.
Markus trinkt jeden Tag einige Liter Billigbier
Willy-Brandt-Platz, mittags um kurz nach eins. Die Blicke der eiligen Passanten, die Markus B. (46) auf sich zieht, drücken Verachtung und Abscheu aus, gelegentlich auch Mitleid. Sechs Flaschen Billigbier für 1,69 Euro hat er schon intus und in seinem Jutebeutel ruhen weitere zwei Liter vom Discounter. Trotzdem sagt er: „Ich bilde mir ein, auf einem klaren Level zu sein.“
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Hauptschule, Weiterbildung, Abitur, Schneiderlehre, Werbung - das war sein erstes, das „normale“ Leben. Heroinabhängig wurde er mit 25 - „weil Bier, Speed und Kokain als Dröhnung nicht mehr reichten“. Seitdem führt der Essener, kinderlos, ohne Partnerin und ohne jeglichen Kontakt zu seiner Familie, eine riskante Existenz am Rande des Abgrunds. „Sechs Jahre lang habe ich schon im Gefängnis gesessen“, erzählt er - meistens wegen Beschaffungskriminalität. Zurzeit steckt er im Methadonprogramm, um mit Hilfe der Ersatzdroge loszukommen vom Heroin.
Markus’ Welt - das sind die Freunde am Willy-Brandt-Platz, die „Krise“, das Café der Suchthilfe auf der Hoffnungstraße (!) und seine 36-qm-Wohnung. Ein Leben zwischen Bewährungshelfern, Sozialarbeitern und Methadonärzten. „Jeden Morgen um acht muss ich abpusten, sonst gibt’s kein Geld“, sagt er. Und wie steht’s mit „Putzen für Bier“? „Das ist eine Chance, ich will wieder arbeiten“, sagt er.
Missbrauchsopfer Petra - "Zuhause habe ich immer was auf die Fresse gekriegt."
Petra, Essenerin, gelernte Krankenschwester und Mitte fünfzig, sieht man auf Anhieb überhaupt nicht an, dass sie schon lange zur Szene gehört. Eine gepflegte Frau, hellwach und sehr konzentriert. Putzen für Bier? „Allemal besser als zu klauen und überall weggeschickt zu werden“, findet sie. „Die Leute wollen doch das Gefühl haben, dass sie ein bisschen gebraucht werden.“
Schon mit elf habe sie zum ersten Mal Alkohol getrunken. „Auf Kokain kam ich mit dreizehn“. Verpfuscht war ihr Leben eigentlich schon längst davor. „Mein Stiefvater hat mich sexuell missbraucht“, sagt sie mit halber Stimme.
Sie, die als uneheliches Kind auf die Welt kam und ihre eigene Tochter zur Adoption freigab, ist nie richtig beschützt worden. Eigentlich war sie seit jeher Opfer. „Scheiß Zuhause“, sagt sie spontan. „Zuhause habe ich immer was auf die Fresse gekriegt."
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Sucht und Kriminalität - das sind bei vielen am Willy-Brandt-Platz zwei Seiten einer Medaille. Petra grübelt, rechnet und sagt: „Ich war über zehn Jahre im Gefängnis.“ Meistens wegen Beschaffungskriminalität und Drogenschmuggel, aber auch für Delikte, die sie „Eierdiebereien“ nennt: Schwarzfahren, Ladendiebstahl. „Dafür haben sie mir dann die Bewährung geklatscht.“
"Immer wieder Substitution - das ist doch kein Leben."
Wie etliche aus der Szene hat auch Petra die Brücken zur Vergangenheit längst abgebrochen. Kontakt zu den Eltern? Fehlanzeige. Gerne würde sie ihren erwachsenen Sohn wiedersehen, doch der wolle nicht mehr. „Vor fünf Jahren hat er sich zum letzten Mal gemeldet.“
Rückblickend fasst sie ihr tragisches Leben sehr realistisch zusammen. „Mal drauf, dann nicht drauf, und immer wieder Substitution - das ist doch kein Leben.“ Jahrzehnte lang gefangen in einer monströsen Abwärtsspirale hofft sie jetzt, eines Tages doch wieder ein geregeltes Leben führen zu können. „Bei mir hat’s endlich Klick gemacht“, sagt sie selbstbewusst. Und lächelt schüchtern.
Torsten reinigt Spielplätze und Parks - "Arbeit gibt dem Tag Struktur"
„Ich habe ein besseres Gefühl, wenn ich in Arbeitsklamotten rumlaufe und dazu gehöre“. Torsten H. (45), einst Bergmann auf Walsum, schaut nur noch gelegentlich am Willy-Brandt-Platz vorbei. Eher, wie auch an diesem Dienstagmorgen, findet er den Weg ins „Krisencafé“. Der schwarze Kapuzenpulli, die grüne Arbeitshose und die gelben Handschuhe verraten: Torsten hält öffentliches Grün in Schuss. Als Ein-Euro-Jobber im Arbeits- und Qualifizierungsprojekt „Opti“ reinigt er zurzeit einen Spielplatz an der Bäuminghausstraße.
Hinter ihm liegen drei verlorene Jahrzehnte. Den Job auf dem Pütt schmiss er früh, in der Clique kam er über Alkohol und Haschisch schnell zu Heroin und Kokain. Und schließlich hinter Gitter. „Ich habe neun Jahre Gefängnis und drei Therapien hinter mir.“
"Für die, die ganz unten sind, ist es eine große Chance"
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Immer wieder habe er versucht, dem Abwärtsstrudel zu entrinnen. „Die Opti-Leute haben mich toll unterstützt und durch die Arbeit finde ich endlich einen Rhythmus, mein Tag ist wieder strukturiert.“
Vorangegangen waren bittere Rückschläge. „Meine Partnerin ist gestorben und ich erkrankte an Hepatitis C“. Den Kontakt zu Eltern und Geschwistern in Duisburg hat er schon vor Jahren abgebrochen. „Ich hatte es nicht gut zuhause.“
Gerne würde Torsten H. endlich ein bürgerliches Leben führen. Aber noch kämpft er mit den Folgen von Privatinsolvenz und Bewährungshilfe. „Putzen für Bier“ findet er wichtig. „Vom Alkohol wird man die Leute vielleicht nicht wegkriegen, aber für die, die ganz unten sind, ist es eine große Chance.“
Sven möchte Sinnvolles tun - „Wir wollen zeigen, dass wir keine Arschlöcher sind.“
„Ich bin mir sicher, dass in Essen zwanzig Leute mitmachen würden“, sagt Sven S. (33) übers geplante „Putz“-Projekt. Und fügt hinzu: „Wir wollen zeigen, dass wir keine Arschlöcher sind.“
Der ehemalige Gerüstbauer zählt zu den Stammgästen auf dem Willy-Brandt-Platz, der halbe Liter „Hansa“-Pils rinnt schnell durch seine Kehle. Auch Svens Leben ist ein gefährlicher Mix aus Alkohol und Drogen, Kriminalität und Knast. Die letzte Therapie im „Haus Bruderhilfe“ endete im Desaster. „Nach neun Monaten bin ich rausgeflogen.“
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Vor 14 Jahren kam Sven, Vater einer 13 Jahre alten Tochter, ins Methadonprogramm. „Fünf Jahre war ich clean, jetzt trinke ich Alkohol.“
Die Polizei könnte Leute wie Sven vom Platz jagen, aber das würde das Problem nicht lösen, sondern nur verschieben. Hilfe wolle er gerne annehmen. „Ich möchte ‘was Sinnvolles tun, warum nicht als Gärtner?“