Essen. . In unserer Serie über die Kriegsgeneration erzählen Essener NRZ-Leser aus ihren Kindheitstagen in den 30er und 40er Jahren. Helga Klinnert und Hermann Wieschendorf berichten über Lebensmitteldiebstahl, Währungsreform und kostbares Spielzeug.

Es heißt ja, Not macht erfinderisch. Der Ausspruch trifft wohl im besonderen Maße auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Die Essener Innenstadt war zu 90 Prozent zerstört, überall mangelte es an Lebensmitteln und bezahlt wurde häufig mit Tauschwaren. An aufwendiges Spielzeug und Luxusgüter wie etwa eigene Schlittschuhe war da normalerweise nicht zu denken – Hermann Wieschendorf aber hatte ein Paar.

Am Viehofer Platz gab es im Winter 1946 eine große Baugrube, die mit Wasser vollgelaufen und schließlich zugefroren war. Der heute 79-jährige Wieschendorf erinnert sich, dass ganze Schulklassen damals mit großen Augen vor der Eisfläche standen: „Wir Jungs wussten von einem ausgebombten Spielwarengeschäft, das vor den Luftangriffen auch Schlittschuhe im Programm hatte. Also bin ich in die Fahrstuhlschächte geklettert und von dort in den Keller.“ Tatsächlich fand Wieschendorf dort genau das, wonach er gesucht hatte. „Die Schuhe waren natürlich total verkohlt, also haben wir die Kufen abgemacht und uns mit Draht um die Füße gebunden. Man kann sich denken, dass wir öfter auf dem Boden gelegen haben als sonst irgendetwas.“

Mit 20 Mark in der Tasche nach Trier

Hermann Wieschendorf stammt aus der Sybelstraße in Frohnhausen. Als Kind hat er dort mit Manfred Siewert gespielt, über den wir bereits vor einigen Wochen berichteten. Beide gingen in die Kinder-Land-Verschickung und verloren sich dadurch aus den Augen. Seit einigen Tagen haben sie wieder Kontakt.

„Ich weiß noch, wie wir im Februar 1946 zurück nach Essen kamen. Die Autos fuhren mit Holzgas und wir hatten eine Badewanne zwischen den Betten stehen, weil es überall reinregnete“, erzählt Wieschendorf. Heute kann der gelernte Schmied darüber lachen. Wieschendorf sagt, er versuche immer das Beste aus jeder Situation zu machen. Als es keinen Fußball gab, habe man einen Tennisball genommen und der wurde von den Klassenkameraden behütet wie ein Goldschatz. „Wir sind damals überall mit dem Fahrrad hingefahren. 20 Mark in der Tasche und dann für eine Woche nach Trier und zurück. Gepennt wurde im Zelt.“

Deutlich ernster war die Situation beim Thema Verpflegung. Wie die meisten Kinder seiner Generation ist auch Wieschendorf zum „Hamstern“ raus gefahren, wie er selbst sagt. „Irgendwie mussten wir ja an Kohlen und Kartoffeln kommen und die wurden notfalls mit Gewalt verteidigt“, berichtet der heutige Pensionär. „Das war nämlich so: Meine Mutter und ich saßen im Zug und da kein Platz in den überfüllten Abteilen war, lagen die Kartoffelsäcke immer draußen auf den großen Trittbrettern. An Stellen, an denen die Lokomotive nur ganz langsam fahren konnte, lagen ein paar Kerle im Schotterbett, die mit Eisenstangen versuchten, die Säcke von den Holzbrettern zu ziehen. Die habe ich dann mit Steinen beworfen.“

Helga Klinnert erinnert sich an die Währungsreform 1948

„Wir haben damals im Haus meiner Großmutter auf der Neustraße in Borbeck gewohnt. Die Wohnung hatte zwei kleine Dachzimmerchen, die wir uns alle geteilt haben. In einem Raum standen die Betten und nebenan war die Küche“, erzählt, die heute 77-jährige Helga Klinnert. Die Familie stammt eigentlich aus Essen-West, aber der Krieg führte dazu, dass auch die Klinnerts evakuiert wurden und mehrere Jahre in Württemberg verbrachten. 1946 kam die Familie wieder nach Essen, der Vater blieb noch bis 1948 in Kriegsgefangenschaft.

„Ganz in der Nähe der Zeche Neu-Cöln lebte eine Frau mit einem kleinen Kind. Ich bin dort jeden Tag hin und habe mich um das Mädchen gekümmert. Die Mutter musste tagsüber in einem Krankenhaus arbeiten und war natürlich froh, dass sich jemand um ihre Tochter gekümmert hat. Zur Belohnung bekam ich ein paar Butterbrote und etwas Milch mit. Für uns Kinder war das richtig lecker,“ berichtet sie. Klinnert, die viele Jahre im Lauftreff Kaiserpark aktiv war und Marathon gelaufen ist, sagt, sie habe es damals genossen, frei auf der Straße spielen zu können: Völkerball, Murmeln tauschen und mit selbst gebastelten Puppen. „Es gab ja nicht so viele Autos – kein Vergleich zu heute. Als Kind waren wir den ganzen Tag lang draußen“, so Klinnert.

Am 20. Juni 1948 wurde in Westdeutschland die D-Mark eingeführt. Klinnert weiß noch, wie jedes Familienmitglied 40 Mark „Kopfgeld“ erhielt. Wofür das Geld ausgegeben wurde, das kann sie heute nicht mehr sagen. Zum Vergleich: Hermann Wieschendorf erhielt zu dieser Zeit monatlich 25 Mark Lehrlingsgeld. Eine Mark bekam er von seiner Mutter pro Woche ausgezahlt, den Rest musste er abgeben. Man kann sich ausrechnen, wie lange Wieschendorf sparen musste, um sich eine Karte im Roxy Kino leisten zu können. 1,10 Mark kostete die damals. Eine Kugel Eis war da mit 20 Pfennigen deutlich günstiger.

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