Essen. Im dritten Teil unserer Serie über die Kriegsgeneration geht es um persönliche Schicksale, ausgefallene Tauschgeschäfte und den Schulalltag. Die beiden NRZ-Leser Erika Eisenberg und Werner Krebs erinnern sich an ihre bewegte Kindheit im Essen der 30er und 40er Jahre.

Der erste Schultag ist für die meisten Menschen ein besonderes Erlebnis. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass uns nahezu alle bisherigen NRZ-Zeitzeugen ein Foto vom Tag ihrer Einschulung geschickt haben – deutlich erkennbar am Schultornister und der Zuckertüte, die angesichts der Umstände manchmal recht klein ausfiel. Viele Aufnahmen aus dieser Zeit sind im Krieg verbrannt. Erika Eisenberg aber hatte nie ein Bild von ihrem ersten Schultag an der früheren Glück-auf-Schule, denn am 1. April 1940 befand sich die damals nicht ganz Sechsjährige in Kur.

„Ich war so klein und mager, dass ich erst 14 Tage später in die Klasse durfte. Im Jahr darauf habe ich den Fotografen gebeten, mich nachträglich mit den neuen Schülern zu fotografieren, aber der wollte mir nicht glauben, dass es von mir kein offizielles Bild gibt“, erinnert sich die 79-jährige Eisenberg noch heute. Fotos hatten für sie vielleicht auch deshalb immer eine besondere Bedeutung, weil es nur so wenige gab. Als die Familie während der Luftangriffe im Bunker Schutz suchte, war immer auch ein Köfferchen mit den Familienalben dabei.

Zigaretten gegen Puppe getauscht

Einen Teil des Krieges verbrachte Eisenberg in der Kinder-Land-Verschickung. Sie erinnert sich, dass ihre Mutter damals nach Künzelsau bei Heilbronn kam. „Fast alle Frauen aus Essen gingen nach Künzelsau. Als Kind machte mir der Name Angst. Meine Mutter wohnte in einer Gaststätte mit dem Namen ‘Zum wilden Mann’. Das war schon merkwürdig, wenn man eine Postkarte mit der Anschrift bekam.“

Viele alltägliche Dinge waren in den (Nach)-Kriegsjahren nur schwer zu beschaffen. Textilien wurden nur selten gekauft und selbst an Stoff und Wolle kam man meistens nur durch Tauschgeschäfte. Die im Unterricht gestrickten Pullover waren meistens gerade groß genug, um eine Spielzeugpuppe damit einzukleiden.

Eisenberg berichtet, dass sie ihre Hausaufgaben häufig auf der NRZ-Ausgabe vom Vortrag gemacht hat. „Wir haben auf den Zeitungsrändern geschrieben. Sonst gab es ja kaum Papier“, erinnert sich die Leserin aus Schönebeck. Mit einer Schere hat sie die Zeitungsseiten in kleine Streifen geschnitten und darauf auch Aufsätze für Freundinnen verfasst. Die handschriftlichen Aufsätze wurden dann gegen reines Papier getauscht. Eisenberg: „Darauf konnte man deutlich einfacher schreiben. Wir hatten ja noch Feder und Tinte und in der Schule sogar Tafel und Griffel.“ Über die Zeitung kam sie auch an ihr Weihnachtsgeschenk. Ein Spielzeughändler hatte eine Anzeige aufgegeben, in der es sinngemäß hieß: „Suche Zigaretten, gebe Puppe ab.“

Werner Krebs hat noch heute Alpträume vom Krieg

Die Erinnerungen von Werner Krebs sind deutlich härter. Viele Zeitzeugen leiden unter den Erlebnissen, die sie nicht mehr los lassen. Nur selten sprechen diese Menschen über das, was sie beschäftigt. Der 82-jährige Krebs hat als Kind mit angesehen, wie deutsche Soldaten in den letzten Kriegstagen auf die eigenen Leute geschossen haben, als diese über die Ruhr flüchten wollten. Er hat auch gesehen, wie ein Pferd durch eine Granate getötet wurde und kurz darauf Anwohner kamen, um sich Fleisch aus dem toten Körper zu schneiden. „Wenn die Tiefflieger Richtung Bahnhof Dahlhausen flogen, ist einem das Herz fast in die Hose gerutscht. Die Patronen landeten ja neben meinem Bruder und mir auf der Erde“, berichtet der mittlerweile pensionierte Lehrer für Sehbehinderte.

Werner Krebs ist ein fröhlicher Mensch. In seiner Freizeit malt und bastelt er gerne. Er engagiert sich in Vereinen und erst vor ein paar Tagen hat er für seinen ersten Enkel den Fuß für eine Taufkerze geschnitzt. Doch immer wieder kommen Erinnerungen hoch. Am Telefon sagt seine Frau, dass es für ihn eine Erleichterung sei, einmal über diese ganzen Dinge sprechen zu können. Da sind Szenen von der Evakuierung, als der Zug, der seine Klasse von Hinterpommern zurück ins Ruhrgebiet bringen sollte, von russischen Panzern beschossen wurde und der Lokführer dabei umkam.

Bruder verblutete im Krankenhaus

Dann sind da Bilder, von der meterhohen Flutwelle, ausgelöst durch die Zerstörung der Möhnetalsperre, die Kinderbetten, Kühe und ganze Holzhäuser durch Altendorf gespült hat. „Wir wussten, dass die Welle kommen würde und wie Jungs so sind, haben wir an der Ruhrbrücke gewartet. Letztendlich kamen wir gerade noch den Berg hoch und konnten uns in Sicherheit bringen.“

Manchmal träumt Krebs davon, wie ein Flieger den Hang hinunter stürzt, dann sieht er einen Stahlhelm voll mit Blut. „Das ist fast eine Strafe,“ sagt Krebs. Wie viele andere Menschen seiner Generation hat er seine Lebenserinnerungen für seine Kinder aufgeschrieben. Nicht alle Erinnerungen an die 30er und 40er Jahre sind schlecht, aber insgesamt überwiegen die persönlichen Schicksalsschläge. Sein Bruder Götz versuchte einen Brand zu löschen, wurde durch eine Bombenexplosion verletzt und verblutete im Krankenhaus, obwohl es so aussah, als würde er durchkommen. „Papa, ich seh’ dich gar nicht mehr,“ waren seine letzten Worte.