Steele/Horst. .

Geschichte besteht aus Geschichten. Was im Lexikon zu finden ist, im Geschichtsatlas, dem Schulbuch oder der Zeitung, steht nur dort, weil es: a) einmal passiert ist und, ganz wichtig: b) jemand aufgeschrieben hat. Immer wieder jedoch bleiben Ereignisse lange unentdeckt und vergleichsweise unbekannt – wie etwa die Geschichte einiger Zwangsarbeiterlager inmitten vom Stadtteil Horst. Das aber wird sich ändern.

Dahlhauser Straße

Pfadfinder, Menschen, die sich, wie der Name schon sagt, auch im übertragenen Sinn auf die Socken machen. Mitten in Horst etwa, da gibt’s den Stamm Philipp Neri, gut 150 Aktive, die sich regelmäßig im Jugendheim der Gemeinde St. Joseph treffen, um Dinge auf den Weg zu bringen. Von den jüngsten Mitgliedern, den Wölflingen, über die Jungpfadfinder und die Pfadfinder bis hin zu den von Georg Schniggenfittig und Brigitte Schönhense angeleiteten „Rovern“.

Genau die fassten neulich den Entschluss, mehr Licht in eines der dunkelsten und düstersten Kapitel der Stadtgeschichte zu bringen.

Die Dahlhauser Straße. Eine gar freundliche Gegend, wo nichts mehr an die Gräueltaten erinnert, die sich im ausgehenden 2. Weltkrieg auch dort ereigneten. Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter missbraucht und geschändet wurden. Meistens Männer, aber auch Frauen. Meistens aus Russland, aber auch aus anderen Kanten Osteuropas. Menschen, längst zu armen Teufeln verkümmert, weil sie „auf der falschen Seite“ standen.

Am Kanarienberg etwa, da waren sie eingepfercht zwischen 1943 und Kriegsende. Wie viele genau, weiß niemand. Bekannt aber ist, wie unmenschlich sie behandelt wurden, wie sie hungerten und arbeiten mussten, um die „Wunden“ zu beseitigen, die die Bomben der Alliierten in die Bahnstrecke nebenan gerissen hatten. Bis zur absoluten Erschöpfung, oft bis zum Tod. Auf den Gleisen blieben viele auf der Strecke. Nicht nur dort.

Oder um die Ecke, die Dahlhauser Straße 106. Wo heute ein Getränkefachhandel steht, gab’s früher die Eisen- und Schraubenwerke Steele. Wenige von der Ursprungsbelegschaft nur – der Großteil der Männer war im Krieg oder dort gefallen – so dass die meiste Arbeit Menschen machten, die einst zum „Feind“ gehörten. 260 Männer und Frauen, allesamt aus Russland, Polen, der Tschechei.

In der Heimat der Gulag

So groß die Freude, als der Krieg zu Ende ging: Nachdem die Amerikaner das Lager, wie die Pfadfinder herausgefunden haben, mit Gewalt geräumt hatten, nahm die Tragödie für viele der physisch wie psychisch völlig ausgemergelten Zwangsarbeiter einen geradezu zynischen Verlauf. Gemäß des Jalta-Abkommens wurden sie in ihre Heimat gebracht („repatriiert“), frei indes waren sie nicht. Generalissimus Stalin witterte Kollaborateure und Spione, die Strafe war die Deportation ins Besserungslager, den berüchtigten Gulag.

Auch das ist Teil der Geschichte.

Hintergrund: Die Pfadfinderschaft Deutschland macht mobil. Unter dem Slogan „Uns schickt der Himmel“ legen sich vom 13. bis zum 16. Juni wieder zahlreiche junge Leute im Rahmen der 72-Stunden-Aktion des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) ins Zeug, auf Missstände aufmerksam zu machen, sie zu bekämpfen, mitunter sogar zu beseitigen.

Mittendrin, statt nur dabei: Die „Rover“ des Stammes Philipp Neri aus Horst, die ältesten Aktiven, 20 Frauen und Männer zwischen 16 und 21 Jahren. „Wir wollen die Welt ein Stück zum Positiven dort verändern, wo sonst Geld und Hilfe fehlen“, sagt Katharina Wilk stellvertretend für ihre Kollegen.

Was sie beleuchten, recherchiert haben und am 15. oder 16. Juni mit einer Gedenktafel an der Dahlhauser Straße Ecke Tossens Büschken den Menschen erzählen möchten, ist ein kaum bekanntes Kapitel Stadtgeschichte. Arbeitslager im Umkreis von Steele. Kanarienberg, Zeche Eiberg, Eisenwerk. Wilk: „Dass kaum mehr jemand davon weiß, wollen wir so nicht hinnehmen.“ Das wiederum freut Klaus Kaiser, Geschäftsführer des Historischen Vereins: „Tolle Arbeit.“

Die recherchen zu den Zwangsarbeiterlagern laufen auf derzeit Hochtouren. Gleichwohl bittet der Pfadfinderstamm Philipp Neri um Unterstützung. Wer Zeitzeugen kennt, mitunter selbst einer ist oder andere Infos hat, sollte sich bei Georg Schniggenfittig melden (0152 56 43 59 56 oder g.schniggenfittig@gmx.de).