Essen. Eigentlich wollte Manfred Siewert nur ein paar biografische Erinnerungen für seine Tochter aufschreiben. Herausgekommen sind drei Bücher, die viel über das wechselhafte Wachsen einer ganzen Generation erzählen. Der 82-Jährige berichtet über seine Jugend in Frohnhausen, aber auch über die Geschichte der Stadt Essen.
Bereits der Untertitel zu Manfred Siewerts erstem Buch lässt auf ein bewegtes Leben schließen: „Hitlerjunge, Kommunist, Waffenstudent.“ Der heute 82-Jährige sagt, als Kind habe er an vieles geglaubt, aber irgendwann sei er Pragmatiker geworden und hätte das getan, worauf er Lust hatte.
In Siewerts Fall bedeutet das ein bisschen Rebellion und gleichzeitig Fechten in einer schlagenden Verbindung. „Dass passt überhaupt nicht zusammen, aber als 16-Jähriger bin ich Mitglied der Kommunistischen Partei geworden. Irgendwie hatte ich genug von der ganzen Ideologie und fand die Leute einfach nett“, bilanziert Siewert.
Kindheit in Frohnhausen
Der gebürtige Altenessener hat nun eine dreiteilige Autobiographie vorgelegt, die über das Leben eines körperlich eingeschränkten Mannes berichtet, aber auch viel über das wechselhafte Wachsen einer ganzen Generation erzählt.
Einen Schwerpunkt der Erzählungen bildet Siewerts Kindheit in Frohnhausen und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Da sind Beschreibungen über das Elternhaus auf der Sybel-straße, über die spärliche Wohnungseinrichtung, die defekte Klingel, das notdürftig geflickte Dach, alltägliche Abläufe, Kleidung und Spielzeuge. Gleichzeitig schreibt Siewert auch über die Geschichte der Stadt Essen und über politische Entwicklungen.
"Historische ist große Leidenschaft"
„Zunächst war es nur Familienforschung. Ich wollte unsere Geschichte für meine Tochter Claudia aufschreiben, aber dann wollte ich auch die Zusammenhänge erklären. Das Historische ist meine große Leidenschaft.“ Drei Jahre hat Siewert an den Büchern geschrieben. Manchmal hat er sich dabei alte Fotos angesehen, meistens aber erzählt er aus seinen Erinnerungen.
Bereits seit 20 Jahren wohnt der Familienvater in Spanien. Aber auch in der Ferne wird er meist als Essener erkannt. „Im Kohlenpott haben die Menschen halt einen gewissen Zungenschlag. In Berlin hat man mich deshalb ständig nachgeäfft.“ Einmal im Jahr kommt der 82-Jährige in seine alte Heimat und wandert dann zum Frohnhauser Markt. Die Straßen dort sind für ihn irgendwie enger geworden. Besonders gerne erinnert sich Siewert an den Baldeneysee. Als Jugendlicher war er häufig auf dem Wasser.
An Kinderlähmung erkrankt
Als Siewert fünf Jahre alt ist, erkrankt er an Kinderlähmung. Er kann das rechte Bein und die rechte Hüfte plötzlich nicht mehr bewegen. Die Eltern bringen ihn zu einem Arzt und schließlich in die Städtische Kinderklinik. In seinem Buch liest sich das so: „Die stete Sonderbehandlung meines rechten Beines, seine ständige Präsenz in meinem Bewusstsein bei allen täglichen Verrichtungen und die immer gegenwärtige Behinderung führten dazu, dass ich dieses Bein neben meinem eigentlichen Ich als einen fast eigenständigen Teil meines Wesens empfinde, und akzeptiere, dass ich mich immer wieder damit auseinander zu setzen habe. Es hat alle meine weiteren Lebensumstände bestimmt.“
Für Siewert bedeutete die Behinderung vor allem Verzicht. Wenn die Jungs auf seiner Straße „Kellerfußball“ spielten, konnte er bestenfalls im Tor stehen und aufpassen, dass keine Glasscheibe zu Bruch ging. Mit der Schippe oder dem Bohrer konnte er nichts anfangen, erklärt Siewert. Anders formuliert: Beruflich gab es für ihn keine Alternative zum Schreibtisch. „Sicherlich habe ich auch deshalb mit dem Schreiben begonnen. Ich wollte zeigen, dass am Ende vielleicht alles eine glückliche Fügung war, denn mein Leben wäre ohne diese Einschränkung sicherlich ganz anders verlaufen.“
Nachholbedarf bei bestimmten Themen
Der Diplom-Ingenieur sagt, in den Medien werde zwar oft über die Nazi-Zeit berichtet, aber bei bestimmten Themen gebe es Nachholbedarf. Seiner Meinung nach fehle es an Schilderungen über die Zeit vor dem Krieg, über die Gefühle der damaligen Jugend, aber auch über die Ereignisse nach der Kapitulation.
Wie viele Gleichaltrige, verbrachte Manfred Siewert die letzten Kriegsjahre fernab der Heimat, irgendwo auf dem Land. Nach Stationen in der Slowakei, Böhmen und Mähren, kam er mit 14 Jahren in das zerbombte Essen zurück. Sein Vater befand sich zu dem Zeitpunkt noch in Kriegsgefangenschaft. Bereits nach wenigen Wochen wurde der Schulbetrieb wieder aufgenommen.
Siewert erinnert sich in seinem Buch: „Trümmerhaufen zerstörter Häuser wechseln sich mit Ruinen ausgebrannter Häuser ab. Dazwischen gibt es einige verschonte Gebäudeteile [...]. Die Splittereinschläge haben Mauerverletzungen und Löcher hinterlassen. Erst bei genauerem Hinblicken bemerkt man, dass in ihnen Menschen wohnen. Auf den Bürgersteigen haben zumeist Frauen die Trümmerstücke der Hausmauern so weit nach hinten geworfen, dass ein Gehbereich entstanden ist, der mit Besen sauber gehalten wird. Die noch zugänglichen Keller sind in notdürftig zum Wohnen und Schlafen eingerichtet. Ich sehe keinen Ansatz, wie sich das einmal ändern soll.“