Essen. Die Galerie Cinema in Essen-Rüttenscheid hat nur 45 Plätze, aber jede Menge Atmosphäre. Hier läuft ein eigenwilliges Programm – und seit 38 Jahren „Harold and Maude“. Viele Nostalgiker frischen bei diesem Filmklassiker ihre Jugenderinnerungen auf.
Schon die Tür ist eine kleine Provokation: Ein prachtvoller Türklopfer hängt da – und die Aufforderung „bitte nicht klopfen“; pünktlich zu Beginn der Vorstellung werde das Kino geöffnet: Willkommen in der Galerie Cinema an der Julienstraße in Rüttenscheid.
1971 hat Hanns Peter Hüster, der später die große Lichtburg retten sollte, Essens kleinstes Kino eröffnet. In der ehemaligen Galerie eines Freundes, die er mit Projektor, Rollleinwand und Eigensinn zum Lichtspielhaus umfunktionierte. Nicht immer wollten ihm die Verleiher seine Wunschfilme geben, nicht immer wollte das Publikum die von ihm ertrotzten Filme auch sehen. Als Ken Russells „Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn“ keine Zuschauer lockte, hängte Hüster einige Tage ein „Ausverkauft“-Schild an die Tür. Danach lief der Film noch ein Jahr an der Julienstraße.
Ein hübscher Erfolg, aber selbstredend nichts gegen die 38 Jahre, die „Harold and Maude“ nun schon in der Galerie gezeigt wird, stets im englischen Original mit Untertiteln: jene Romanze zwischen einer alten Dame und einem 20-Jährigen, die eine Leidenschaft für Beerdigungen, Haferstrohtee und einander teilen. Die sperrig-spleenigen Charaktere passen wunderbar zu Hüster und seinem Haus; wer den Film hier sieht, erlebt ein Gesamtkunstwerk.
Galerie Cinema
Orangefarbene Plastikstapelstühle bis in die 80er
Darum gibt es viele Wiederholungstäter wie Heidi Dittrich, die an einem regnerischen Sonntag nach 30 Jahren in die Galerie Cinema zurückkehrt. „Es ist lange her, aber ich habe mich genau erinnert, dass dies ein Kino im Wohnzimmer ist“, sagt die 59-Jährige. Sprich: Wenn die Tür geöffnet wird, steht man gleich im Kinosaal, der streng genommen ein Sälchen ist. „Immerhin gibt’s inzwischen richtige Kinosessel, früher saßen wir auf Stühlen“, sagt Dittrichs Begleiterin Heike Franke (48).
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Bernhard Wilmer von den Essener Filmkunsttheatern kann das bestätigen: „Bis in die 80er Jahre hatten wir orangefarbene Plastikstapelstühle.“ Und was damals bloß unbequem war, ist heute Legende. So spricht auch Nella Delbach (48) von den Stühlen, vom brechend vollen Raum und von Zuschauern ohne Sitzplatz, „die von zu Hause eigene Stühle mitbrachten“.
Die Kirchenbank verschwand, der Klassiker blieb im Programm
„Endlich sind sie da“, jubelte die Zeitungsanzeige vom 6. Juni 1975. Gemeint waren „Harold and Maude“, die seither in der Galerie Cinema zu Hause sind. Längst läuft der amerikanische Filmklassiker von Hal Ashby nicht mehr täglich – man hat ja ein aktuelles Programm –, doch bis heute ist er sonntags um 17 Uhr an der Julienstraße 73 zu sehen; selbst wenn nur ein Gast kommt.
Anfangs saßen die Zuschauer auf Stühlen, seitlich an der Wand stand noch eine Kirchenbank. Die kam in den 1980er Jahren weg, eine Wand wurde versetzt, eine vernünftige Bestuhlung eingebaut. „Wir ändern alles, nur Harold and Maude bleibt“, sagt Bernhard Wilmer von den Essener Filmkunsttheatern. Nirgendwo in Deutschland werde ein Film seit so vielen Jahren gezeigt. Als die Kopie hin war, finanzierten die Essener eine neue – Original mit Untertiteln. Fans wie Heike Franke würdigen das: „Ich hab’ den Film mal im Fernsehen auf Deutsch sehen wollen und ganz schnell ausgeschaltet!“
Karg wie eine Garage sei die Galerie da gewesen, trotzdem hat dieser eine Besuch vor fast drei Jahrzehnten einen so starken Eindruck bei ihr hinterlassen, dass sie nun ihren Mann Bert, die Freunde Annette Nordmann und Wolf Scheitzer mitgeschleppt hat. Die Vier haben vor einiger Zeit eine „Kultur-Offensive“ gestartet und besuchen nun offensiv Museen, Theater oder Tango-Abende. Und Nella Delbachs „Sehnsucht nach den alten Sachen“ hat sie hieher gebracht.
Besucher aus Wuppertal und Kassel
Es ist eine Sehnsucht, die auch Besucher aus Wuppertal oder Kassel in die Galerie Cinema führt, wo man Jugenderinnerungen in einer Zeitblase nacherleben kann. Neben den Nostalgikern gibt es immer wieder Novizen: Von den 45 Plätzen sind an diesem Regentag 14 belegt – und fünf der Zuschauer haben „Harold and Maude“ noch nie gesehen.
„Harold and Maude“ wird jeden Sonntag um 17 Uhr in der Galerie Cinema an der Julienstraße 73 in Essen-Rüttenscheid gezeigt - auch wenn nur ein Zuschauer kommt. Daneben hat das Kino ein vielfältiges aktuelles Programm.
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