Essen. Wollte man den geographischen Mittelpunkt von Essen ermitteln, so käme man auf der Müller-Breslau-Straße 22c raus. Leider bietet die Gegend kaum etwas Aufregendes und die Stadt hat sich dazu entschieden, dass der Eingang des Schwimmzentrums Rüttenscheid zum Zentrum gekrönt wird.

Der Mittelpunkt Essens? Da werden die meisten eine rasche Antwort parat haben: Die Innenstadt mit dem Burgplatz als Keimzelle der Stadt wird es sein. Historisch ist das völlig richtig, und ein flüchtiger Blick auf die Karte könnte dazu verleiten zu glauben, dass auch die streng geografisch berechnete Mitte irgendwo im Stadtkern zu finden sein müsste, denn Essen ist ja in alle Himmelsrichtungen schön gleichmäßig gewachsen.

Der letzte Zuwachs allerdings, nämlich Kettwig im Jahr 1975, hat die Stadt noch einmal entschlossen nach Süden gedreht. Und so findet sich der geografische Mittelpunkt in einer unspektakulären Gegend: Gegenüber dem Schwimmzentrum Rüttenscheid, auf der gegenüberliegenden Straßenseite der vierspurigen Müller-Breslau-Straße.

Genauer gesagt: Es ist das Haus Müller-Breslau-Straße 22c, wo auf der Karte des Amtes für Geoinformation, Kataster und Vermessung alle Linien zusammenlaufen. Amtsleiter Frank Knospe kann das entscheidende Kriterium für gerade diesen Ort anschaulich erklären: „Stellen sie sich vor, der Flächenumriss der Stadt Essen wäre eine Scheibe. Würde man diese Scheibe an diesem errechneten Punkt aufhängen, dann würde sie austariert schweben.“ Man kennt das Prinzip von den Mobilees, die sich früher mancher in die Wohnung hing.

Ein wenig unfertig zusammengewürfelt

Weil der Stadt das Haus Nummer 22c als Mittelpunkt offenbar zu schlicht erschien, hat man sich in der Nähe beholfen und sich „prominenterweise auf den Eingang des Schwimmzentrums Rüttenscheid“ festgelegt, wie Frank Knospe schreibt. Nun, prominent ist ein bisschen geschmeichelt. Das Schwimmzentrum ist sicherlich ein nützliches Stück Essen, aber nicht unbedingt ein schönes. Überhaupt: Die ganze Gegend, das geben wir jetzt mal offen zu, kommt in dieser Serie zunächst nur wegen der Mittelpunkt-Funktion vor.

Historisch, man kann es auf alten Karten sehen, war hier noch vor 70, 80 Jahren eine Mischung aus Agrar-, Kleinindustrie- und Niemandsland mit der Güterbahntrasse zur Zeche Ludwig als Trennlinie. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand die Müller-Breslau-Straße als leistungsfähige Verbindung zwischen Rüttenscheid und Rellinghausen, Schul- und Schwimmzentrum wurden gebaut, ein Seniorenheim, die Hochhäuser, ferner einige Gebäude von der Art der Nummer 22c.

Auf der Südseite der Bahnlinie kam die Pädagogische Hochschule (PH) hinzu, garniert von einer Reihenhaussiedlung. Bis heute wirkt die Gegend ein wenig unfertig und zusammengewürfelt, und es ist vielleicht kein Zufall, dass die Stadt bislang ohne Erfolg versucht, das große Grundstück der längst leerstehenden PH für neue Wohnbebauung zu erschließen. Essens Mittelpunkt – ein lehrreiches Beispiel für Stadtplanung ohne echten Plan. Insofern auch etwas Besonderes.

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