Essen. Das 1908 fertiggestellte Rathaus Kray war Symbol einer aufstrebenden preußischen Gemeinde. Nach der Eingemeindung zu Essen im Jahr 1929 blieb nicht viel vom Bürgerstolz – außer dem imposanten Bauwerk.
Krays schöne Ecken sind selbst in Essen wenig bekannt. Und tatsächlich ist es leichter, hier im Osten der Stadt Spielhöllen und Schnellstraßen, Bausünden und Niedergang zu finden. Doch es gibt einen stummen Zeugen, der von einem anderen Kray erzählt: das 1907/08 erbaute Rathaus am Kamblickweg. Damals hatten sich Kray und Leithe gerade losgesagt von Stoppenberg und setzten auf einen sanften Hügel ein Rathaus, versehen mit Turm und Freitreppe. Gemauerter Bürgerstolz, Symbol einer aufstrebenden preußischen Gemeinde. Alle Hoffnungen auf eine große Zukunft sollten sich im folgenden Jahrhundert zerschlagen – das Rathaus blieb.
Wer heute herkommt und Kray nur als Klischee kennt, ist erschlagen von der Grandezza des Bauwerks. Wie jener 80-jährige Bredeneyer, der mit einer Oldtimer-Rallye Station machte und verblüfft zu Protokoll gab: „Mein ganzes Leben wohne ich in Essen, nie war ich in Kray und dann steht da so ein Schmuckstück!“ Zu verdanken sind solche Begegnungen dem „Förderverein Rathaus Kray“, der das Gebäude seit gut einem Jahrzehnt hegt, pflegt – belebt. Mit Festen, Konzerten oder eben als Zwischenhalt für alte Autos mit alten Fahrern.
Hier saß schon Gustav Heinemann
Als sich der Verein des Gebäudes annahm, lag dessen letzte historische Stunde schon über 50 Jahre zurück: 1946 kam Essens Stadtrat hier erstmals nach dem Krieg zusammen – weil das Rathaus in der Innenstadt kriegsversehrt nicht zur Verfügung stand. Die Teilnehmerliste hängt heute im Ratssaal in Kray, und man findet darauf Gustav Heinemann, jenen Oberbürgermeister, der später Bundespräsident werden sollte. Geschichtsvergessen und fortschrittsgläubig ließ die Stadt später ihr eigenes Rathaus abreißen. Es war jene Zeit, da man auch Steeles Schönheit vernichtete und mit Beton übergoss, die Zeit, da man eine Schneise durch die Stadt zog für die A 40. So blickt man vom Rathaus Kray heute auf die Autobahn.
Rathaus in Kray
Auch das Innere des Gebäudes kann von Verheerungen erzählen, von Zeiten, da man es mit Linoleum, Büropflanzen und an die Wände montierten Aschenbechern versah, da hier nicht mehr Bürgerstolz zu Hause war, sondern das Sozialamt. Diesem Haus seine Würde zurückzugeben, sind Peter und Eva Schindler mit dem Förderverein angetreten. Für sie ist das Rathaus auch aus persönlichem Gründen ein besonderer Ort: Vor 42 Jahren haben sie dort geheiratet, im Bürgermeisterzimmer. Ein gediegenes Büro ist das mit Parkett und Holzvertäfelung, im Wandschrank ein Waschbecken. Heute dürfen Hochzeitsgesellschaften hier nach der Zeremonie Sekt trinken, die Trauung findet nun im Ratssaal statt. „Auch zwei unserer Töchter haben dort geheiratet“, sagen Schindlers und führen in den Saal, der 120 Trau-Zeugen aufnimmt und einen Blick auf St. Barbara und die Alte Kirche bietet.
Verein möchte die Decke freilegen
Die Decke aber ist mit hässlichen Platten verkleidet, der Kronleuchter wich praktischen Leuchten. Der Verein möchte die gewölbte Originaldecke freilegen; ein 100 000-Euro-Vorhaben, für das man erste Sponsoren gewonnen hat.
Wer das riesige Rathaus vom Dachboden, wo der frühere Hausmeister noch eine Wohnung hat, bis zum Luftschutzkeller durchmisst, der entdeckt Schmuckstücke wie die Jugendstil-Fliesen im Entree und einen Geldschrank im Erdgeschoss. In der Pförtnerloge ist nun eine Teeküche, im Ratskeller die Stadtteilbücherei, der Aufzug ist denkmalgerecht verborgen. Doch es gibt auch Räume voller Gerümpel, wo Akten, Flaschen, Tischtennisplatte und der alte Trau-Tisch von gleichmacherischem Staub bedeckt werden. Man kann sagen, das Haus, die Aufgabe ist zu groß. Oder man geht es behutsam an wie die Schindlers: „Als nächstes muss das schäbige Geländer an der Freitreppe weg, wir sammeln für historische Handläufe.“
1815 war Kray ein Bauerndorf mit 356 Einwohnern. Als das Rathaus Kray 1907/08 erbaut wurde, zählte die Gemeinde 13 000 Einwohner und erfreute sich Dank der Zechen großen Wohlstands. Doch die große Zeit währte nur kurz: 1929 wurde Kray von Essen eingemeindet.
Das Rathaus ist nicht der einzige bauliche Zeuge dieser Zeit: Gleich nebenan an der Ottostraße finden sich schöne Häuser, am prachtvollsten ist das frühere Wohnhaus des Bürgermeisters. Auch die viel ältere dörfliche Idylle lässt sich noch erahnen. Eva und Peter Schindler etwa „leben in Leithe wie auf dem Dorf“.
Im Förderverein Rathaus Kray, der 110 Mitglieder hat, setzen sich die Schindlers nicht nur für die Instandhaltung des alten Bauwerks ein, das seit 1985 unter Denkmalschutz steht. Sie wollen es auch zum Treffpunkt im Stadtteil machen: mit Musik und Adventsbasar, mit Osterhase und Engel aus Pappmaché, die alljährlich auf den Balkon bugsiert werden. Im Keller ist neben der Stadtbücherei der Sozialverband, der Club kochender Männer trifft sich dort. „So ein Haus braucht Leben“, sagt Peter Schindler.
Polizeiwache und kochende Männer
Es braucht aber auch eine Funktion, darum ist im Haus die Polizeiwache untergebracht, die dem Land untersteht. Darum hat die Stadt hier eine Seniorenberatung sowie Abteilungen von Jugend- und Rechtsamt. Letzteres muss bald weichen. Das frühere Ausgleichsamt hat sich weitgehend überflüssig gemacht: Über Jahrzehnte hat es Kriegsschäden reguliert, Opfer entschädigt. Nun wickelt Wolfgang Großmann sein Berufsleben ab, schickt viele Akten in Archive und andere in den Schredder. In ein paar Wochen geht er in Altersteilzeit, verlässt mit ein wenig Wehmut das schöne Rathaus. „Aber dann könnte die Bezirksvertretung mit ihren Büros hier einziehen.“
Die tagt bereits im Ratssaal, wo seit einiger Zeit auch wieder Trauungen stattfinden. Dass Standesbeamte aus der Innenstadt kommen, ist Verdienst des Fördervereins. Der hat auch das Parkett im Ratssaal abschleifen lassen, will nun das Krayer Wappen mit der Krähe dort aufhängen. Eines könne die Stadt noch für die Krayer tun, findet Eva Schindler: „Es fehlt ein Stammbuch mit einer Prägung vom Rathaus Kray, für Kettwig und Borbeck gibt es das.“
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