Essen. Es ist bis heute der Kern des Justizviertels in Essen: Vor 100 Jahren zog das Landgericht von der Innenstadt an die Zweigertstraße in Rüttenscheid. Der Geburtstag des Hauses, das voller Erinnerungen an Hass, Leid, Streit, Blut und Gerechtigkeit ist, wird am 17. Mai gefeiert.

Im Jahr 1913 zog das Gericht aus der Innenstadt aufs Gelände des Haumannshofes in Rüttenscheid - Kern eines bis heute existierenden Justizviertels. Das Gebäude galt als eines der schönsten Preußens. 140 Meter breit. Vier Geschosse hoch. Vollgepackt bis unters Dach mit Erinnerungen an Hass, Leid, Streit, Blut – und Gerechtigkeit. Tief bewegende menschliche Schicksale. Am 17. Mai feiert das Gebäude, in dem sich Tag für Tag Dramen abspielen, Geburtstag. Das Landgericht an der Zweigertstraße in Rüttenscheid wird 100 Jahre alt.

Eigentlich feiert es zum zweiten Mal Geburtstag. Am 18. Januar 1956 zog die Justiz in den schlicht wiederaufgebauten Gebäudekomplex, der sich in seiner Fassade deutlich vom mächtigen Haus aus dem Jahr 1913 unterschied. „Das alte Haus galt als einer der schönsten Justizpaläste in Preußen“, weiß Monika Anders, Präsidentin des Landgerichtes. Mit seinen stuckverzierten Sälen, einem imposanten Treppenhaus und einer von der Stadt geschenkten 2,20 Meter großen Justizia aus Bronze wirkte das Haus der dritten Gewalt im Staate ebenso selbstbewusst wie einschüchternd. Übrig geblieben ist der Ostflügel an der Kortum­straße. Ihn verschonten die Bomben im Zweiten Weltkrieg.

Platz reichte nicht mehr aus

Auf einen Neubau hatte die Justiz Ende des 19. Jahrhunderts gedrängt, weil es in den alten Gerichtsstuben zu eng geworden war. Hatte sich die rechtsprechende Gewalt lange Jahre rund um die Burg, den alten Stiftsbezirk am Burgplatz, konzentriert, reichten später auch Neubauten am III. Hagen nicht mehr aus. Die Balken bogen sich nicht nur wegen der ortstypischen Lügen, sondern auch wegen der zunehmenden Personalstärke. Ein neues Haus sollte her. So groß und mächtig, dass neben dem Land- auch Amtsgericht und Staatsanwaltschaft Platz finden sollten.

Polizeipräsidium und Gefängnis in der Nachbarschaft

Es traf sich, dass die Stadt Essen wuchs. Am Rande der noch selbstständigen Gemeinde Rüttenscheid hatte sie den Haumannshof gekauft. Ein „Renommierviertel“ sollte dort entstehen; mit einem Justizzentrum, flankiert von architektonisch hochwertigen Villen und einem Park. Neben dem Landgericht zogen Bauarbeiter das Polizeipräsidium und das Gefängnis hoch. Letzteres wegen der nahen Wohnhäuser mit der Auflage für die Fassade, „dass die Bestimmung des Gebäudes hieraus nicht ersichtlich werde“. Ach, ginge es so einfach, in kleinen Städten den Widerstand gegen Forensik-Neubauten zu brechen.

Der alte Charakter zerstört 

In seinen Grundzügen ist das Villenviertel, in das bedeutende Architekten wie Karl Nordmann und Georg Metzendorf, Kaufleute und Rechtsanwälte zogen, noch heute zu sehen. Doch Abrisse, Neubauten und geänderte Straßenführungen haben den alten Charakter zerstört.

Es ist nicht die einzige Änderung. So gibt es zum 100. kein Festessen der Justiz wie am 17. Mai 1913. Vorgeschrieben war vor 100 Jahren der Frack, eingeladen waren nur „die Herren“. Es gab klare Kalbskopfsuppe, Steinbutt, Heidschnuckenrücken, frischen Hummer, Westfälische Bombe und Käsestangen. Wer da an volle öffentliche Kassen denkt, sei gewarnt: Jeder Festgast zahlte dafür 9,00 Mark. Vier Millionen Mark hatte der Justizpalast gekostet. Zum Vergleich: Der heute geplante Saaltrakt-Neubau an der Kortum­straße kostet 28 Millionen Euro. Umgerechnet müsste Festmahlgästen das Menü heute 63 Euro wert sein.

Jubilar ist gut in Schuss

Am 17. Mai feiert das Gericht 100. Geburtstag. Schmuck sieht es aus, denn seit 1999 ist es grundlegend renoviert worden. Platz braucht die Justiz dennoch, der Neubau des Saaltraktes ist aktuell geplant.

Hatte das Justizgebäude 1913 neben Land- und Amtsgericht auch die Staatsanwaltschaft beherbergt, war die Anklagebehörde bereits 1976 ausgezogen, weil es im alten Bau zu eng wurde. Zunächst wechselte die Staatsanwaltschaft rechts vom Hauptgebäude in das ehemalige Bürogebäude des angesehenen Rechtsanwaltes jüdischer Herkunft Salomon Heinemann, der nach der Reichspogromnacht 1938 mit seiner Ehefrau Selbstmord beging. Er hatte aktiv das Folkwang-Museum gefördert und seine Kunstsammlung der Stadt vermacht. Mitansehen musste er, dass Nazi-Schergen seine Bilder in Brand setzten.

Staatsanwaltschaft seit 2007 im Neubau

Die Staatsanwaltschaft blieb bis 2007 in Heinemanns Gebäude, das zusehends verfiel. Seit 2007 sitzt sie in einem glasgeprägten Neubau links vom Gericht. Damals wie heute wurde das Haus der Staatsanwaltschaft mit dem Gericht durch die „höhere Beamtenlaufbahn“ verbunden. Dieser Übergang schwebt zwischen den vierten Geschossen. Weichenstellend war auch dieser Neubau, weil die Stadt damit den Standort für ein Oberlandesgericht aufgab, den sie seit 1913 dort reserviert hatte. So muss der Ruhrgebietler immer noch ins westfälische Hamm, um die OLG-Instanz anzurufen.

Saaltrakt mit PCB belastet

Weniger Bestand als das Gerichtshauptgebäude hat der in den 70er Jahren entstandene Saaltrakt hinter dem Haus. PCB belastet weicht er ab Februar 2014 einem Neubau an der Kortumstraße, der auch das Arbeitsgericht aufnehmen wird. Das Justizzentrum der Stadt, zu dem auch das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalens zählt, gewinnt weiter an Gestalt.

Straftäter prägen das Bild 

Nicht immer durfte sich die Rechtsprechung seit 1913 als Hort der Gerechtigkeit verstehen. Aus den frühen Jahren sind nur wenige Verfahren in der Erinnerung geblieben. Wie so oft sind es Strafverfahren, die nicht vergessen sind: Etwa 1921 der Freispruch für 15 Rote-Ruhrarmee-Kämpfer nach der Eroberung des Wasserturms an der Steeler Straße.

1956 Wiederaufbau eingeweiht

Willkür war ab 1933 in der Nazi-Zeit Gesetz, vor allem durch die Sondergerichte, die wegen Kleinigkeiten harte Urteile bis zur Todesstrafe verhängten. Allmählich kam die Justiz nach dem Krieg in Gang. Ausweichen musste sie in andere Gebäude, bis 1956 der Wiederaufbau eingeweiht wurde. Die Urteilskraft blieb bestehen. Ende der 50er Jahre verurteilte das Landgericht den Juwelendieb Petras Dominas zu vier Jahren Zuchthaus. Seine Karnaper Verteidigerin Marianne Kreuzer wehrte sich, schmuggelte ihm eine Eisensäge in die Zelle. 24 Stunden blieb er nach seiner Flucht in Freiheit, verbüßte bis 1963.

Anwältin schaute bei Raub zu

Danach legte er eine Serie mit Doppelmord und sechs Raubüberfällen hin. Höhepunkt der „Rechtspflege“: Als er am 26. September 1964 in Amsterdam einen Juwelier überfiel, schaute aus einem Café gegenüber die Anwältin beim Raub zu.

Das Essener Gericht tauchte immer wieder in den Schlagzeilen auf: Der Prozess gegen den Bottroper Ausbrecherkönig Alfred Lecki, der 1969 angeblich beim adventlichen Gesang „Macht hoch die Tür“ aus dem Gefängnis an der Krawehlstraße flüchtete; die Verurteilung der Entführer von Aldi-Chef Theo Albrecht 1973 oder der Prozess gegen die fast komplette Mannschaft von Schalke 04 wegen Meineids im Bundesliga-Skandal von 1971. Zur Gerichtsgeschichte zählen auch das Gladbecker Geiseldrama 1991, 1992 der vierfache Frauenmörder Ulrich Schmidt, die Hooligans, die 1998 bei der WM in Frankreich den Gendarmen Daniel Nivel fast zu Tode traten, oder Chefarzt Christoph Broelsch, der ums Leben bangende Patienten kurz vor der OP um „Spenden“ anging.