Essen. Nur wenige Schritte neben dem Einkaufsgetriebe der Kettwiger Straße markiert der Kreuzgang des Essener Doms eine andere Welt. Ein uralter, magischer Ort, den Fremde hier nicht vermuten würden.
Ihre besten Tage als Einkaufsmeile mag die Kettwiger Straße hinter sich haben, aber manchmal ist es hier immer noch reichlich trubelig. Zum Glück gibt’s bei aufkommender Sauerstoffnot eine Rettungsinsel, die nur wenige Meter entfernt Raum und Stille zum Durchatmen verheißt: der Kreuzgang des Doms.
Wie bitte, ein Kreuzgang? Das wird jetzt vielleicht mancher fragen. Aber ja. In Zeiten des Hochjubelns der Industriekultur ist etwas untergegangen, dass Essen nicht nur eine uralte Stadt ist, sondern bis 1803 ein Stift war, ein kleiner katholischer Kirchenstaat unter Führung adliger Äbtissinnen. Und wie alle klösterlichen Einrichtungen besaß auch das um 850 vom sächsischen Adligen Altfrid gegründete Essener Damenstift einen Kreuzgang, der bis heute an dieser Stelle erhalten ist.
„Er diente zum einen ganz praktischen Zwecken, und erschloss die umliegenden Gebäude des Stiftes“, erläutert Dombaumeister Ralf Meyers. Wenn man so will: ein überdachter Verbindungsweg. Der Gang umschloss ferner den Klostergarten, der auch Paradiesgarten hieß, wohl weil er als ein Stück Himmel auf Erden gedacht war. Auch eine Nutzung als Friedhof ist üblich, in Essen finden bis heute Mitglieder des Domkapitels hier ihre letzte Ruhe. Schließlich war der Kreuzgang der Ort, um zu beten, zur Ruhe zu kommen, nachzudenken oder - modern gesprochen - eine Pause einzulegen. Dies aber nicht in geschlossenen Räumen, sondern halb im Schutz der Gänge und halb draußen an der frischen Luft.
Genau das funktioniert bis heute. „Immer wieder sitzen hier Passanten, die diese spezielle Atmosphäre auf sich wirken lassen“, sagt Meyers. Vor allem im Sommer könnte der Kontrast zur umtriebigen Kettwiger größer kaum sein. Wenn der Asphalt flimmert, wird der schattige Kreuzgang zum kühlenden Ort. Leise plätschert der Brunnen in der Mitte der offenen quadratischen Fläche, deren vier Seiten jeweils genau 21,5 Meter messen, ähnlich wie es der berühmte St. Gallener Klosterplan vorsieht. In den Gängen gibt es viele Sitzmöglichkeiten, die dicken Außenmauern halten die Hitze und im Winter auch die gröbste Kälte ab. Zwischen den schweren Grabplatten erfreuen das satte Grün und eine hundertjährige, knorrige Eberesche, die an den Ursprung der Stadt erinnert: „Asnide“, Eschengrund, hieß Alfrids Hofgut, auf dem er das Stift gründete - sprachliche Keimzelle des Namens Essen.
Es braucht keinen besonderen Kunstverstand, um zu sehen, dass dieser Kreuzgang einiges an Veränderungen erlebt hat. „Der älteste Teil ist der Ostflügel, der um das Jahr 1240 entstand“, sagt der Dombaumeister. Man erkennt die typische romanische Formensprache noch an den Kapitellen - die einzige originale Bausubstanz, die die Bomben des Zweiten Weltkriegs übrig ließen. Auffallend ist, dass die wuchtigen Sockel seltsam schief stehen. „Das sind die Bergschäden“, sagt Meyers. Nach Süden und Westen prägen gotische Bögen die Gänge. Entstanden sind sie erst im 19. Jahrhundert, die Bomben erzwangen einen Wiederaufbau. Die Nordseite schließlich wurde schon früh abgebrochen. Was hier heute steht, ist ein kompletter Neubau aus den 1950er Jahren, der den schlichten, nüchternen Geist dieser Zeit atmet.
Man muss zugeben: Anders als der benachbarte Dom mit seinem berühmten, um 1040 entstandenen achteckigen Westwerk, ist der Kreuzgang ein stilistisches Sammelsurium, kunsthistorisch wenig bedeutend. Aber darum geht es nicht. Es ist selten, dass im Zentrum einer Großstadt ein solcher Ort existiert, dessen Magie sich auch der Nicht-Religiöse schwer entziehen kann. Bepackt mit Kaufhaustüten oder auch mit Gedanken zur Ruhe kommen - hier geht es. In einer geschützten Welt, wenige Schritte von der Kettwiger entfernt.
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