Essen.

Manche Ideen taugen ja nur, bis einer sagt: „Mach mal!“ In diesem Fall ist es ein Aufruf. Das Aalto-Theater sucht 120 Statisten für eine Parsifal-Aufführung. Warum nicht, denk’ ich, in der Masse werd ich nicht auffallen, kann hinter die Kulissen schauen und schließlich – wenn schon nur einmal im Leben Bühne, dann bitte die ganz große.

Mindestens 18 soll der Statist sein und gangsicher. Gut, das sind Qualifikationen, die auch ein gereifter Schimpanse mitbringt. Bewerbung per E-Mail, Antwort auf dem gleichen Wege. Rund vier Stunden nach (!) Vorstellungsbeginn soll ich am Bühneneingang stehen, teilt mir der freundliche Leiter der Statisterie, Matthias Koziorowski, mit. Zwei Wochen später und eine Viertelstunde zu früh stehe ich in einem Aufzug, der einen 40-Fuß-Container fasst, und warte, mit den ,Kollegen’, dass sich der Aufzug, bewegt.

"Ein schöner Ausgleich"

120, das hören wir schon beim Abhaken der Namen, würden nicht mehr gebraucht, 80 „Bürger von Essen“ reichen. Dann fährt der Aufzug los, stoppt in der Kulissen-Schreinerei, durch die man zur Probenbühne gelangt.

Sachen ablegen, bequem machen, dann spult der nette Herr Koziorowski hörbar nicht zum ersten Mal seinen Ansage-Text ab. Haus verwinkelt, Rettungswege kaum vermittelbar, darum Einteilung in Gruppen und Zuteilung Rettungsweg-kundiger Betreuer. In meinem Fall Evelin Bochennek, die seit 2000 so eine Art feste, freie Statistin am Aalto ist, „weil es Spaß macht“.

Von „Spaß“ spricht auch Marie-Christine Hasemann, die vergangene Woche schon bei der Orchesterprobe war, nun bei der Generalprobe mitmacht und überhaupt in fast jeder Vorstellung zu sehen sein wird. „Ein schöner Ausgleich neben meiner Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin“, sagt die 22-Jährige. Und als ein Kind im Judo-Anzug auf die Probenbühne marschiert, holt sie Schoko-Reiswaffeln aus der Tasche, „den fand ich beim letzten Mal so nett, dass ich ihm was mitgebracht habe“.

Stolperfallen auf der Bühne 

Dem Ernst der Lage ist das vielleicht nicht angemessen, denn Aron ist an diesem Abend nicht einfach Kind, sondern der „heilige Gral“. Überlastet und lampenfiebrig scheint er damit nicht und spielt munter mit einem Plastikschwert während der nette Herr Koziorowski weiter einweist. Wir sind also nur 80 und müssen nicht nur auf, sondern über (Oha!) die Bühne laufen, was wiederum nicht nach ,in der Masse unsichtbar‘ klingt.

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© WAZ FotoPool

Dann heißt es aufpassen, dass wir im Dunkeln nicht über die am Boden verstreuten Lumpen (!!) und/oder den im Wundstarrkrampf liegenden Amfortas (!!!) stolpern oder, schlimmer noch, mit dem Fuß in den Spalt zum halb abgesenkten Intensivstations-Container (jep, das klingt nach Wagner?!) geraten.

Staunen und Schmunzeln

Man mag ins Grübeln kommen. Ist das Parsifal wie ich ihn kenne, oder gibt es am Ende zwei Opern, die den Namen teilen, aber unterschiedliche Geschichten erzählen? Viel Zeit zum Grübeln bleibt nicht, schon geht’s mit dem Fahrstuhl runter zur Bühne. Der Regisseur, habe nach der ersten Probe mit den „Essener Bürgern“ geäußert, das habe echt „geil“ ausgesehen. Dirigent Stefan Soltesz, natürlich ebenso euphorisch, habe gemessenere Worte gefunden: „Als habe man lauter durchgeistigte Leute im Park gebeten, zur Erlösung zu kommen.“

Man mag sich wundern, wenn man nicht am Entstehungsprozess mitwirkt, sondern lediglich einen Ausschnitt dieser Inszenierung sieht. Vielleicht, denke ich, muss man das aber auch gar nicht verstehen. Staunen und schmunzeln, das reicht völlig.

„Und vergessen Sie nicht, auszustrahlen“

„Egal, ob Sie sich vorstellen, dass Sie den Lotto-Jackpot knacken oder die ewige Jugend bekommen, wenn Sie an den Gral fassen, Sie müssen sich eine Geschichte, einen Subtext überlegen, warum Sie über die Bühne laufen und diese Geschichte müssen Sie ausstrahlen“, hat Matthias Koziorowski, Leiter der Statisterie am Aalto, uns für den Einsatz im dritten Akt eingeschworen. Da müsse der Abonnent, der mangels Hörgerät und Brille in prekärer Lage sei, mitgenommen werden, auf dass er erkenne – was treibt den Statisten denn so beim Gang an.

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Über Lumpen steige ich, darf ob meines ungeraden Geburtsdatums gar den längeren Weg nehmen, links sehe ich den Amfortas siechen, rechts wundert mich die Intensivstation nicht mehr. Einmal von der linken Bühnenseite zur rechten und wieder zurück.

Was ich dabei wohl ausstrahle, kann ich schlecht in die leeren Ränge der Generalprobe fragen. Und als ich mich warm gelaufen habe, peinlich bedacht, Kollisionen zu verhindern und das Gralskind nicht von der Bühne zu schubsen, ist es schon wieder vorbei. Vorhang im dritten Akt, Dienstschluss. Wenn Sie nun einmal dabei sein wollen – für einige Vorstellungen werden noch Statisten gesucht. www.aalto-musiktheater.de