Essen-Katernberg. . Die Katernberger Lokalpatriotin Anne Weisberg hat in dem „Vierspänner“, in dem schon ihr Großvater lebte, eine Ferienwohnung für Touristen eingerichtet. Es erinnert an Zeiten, als ringsherum noch Obst und Kohl wuchsen, überall Karnickelställe standen und es zum Badetag am Samstag Erbsensuppe gab.
Wo sie selbst eine „wundervolle, glückliche Kindheit“ verbrachte, im Drokamp Nummer 25 in Katernberg, hat Anne Weisberg eine Ferienwohnung ganz im Stil der frühen Siedlungsjahre eingerichtet.
Vorher hatte ihr Onkel hier gewohnt, während sie selbst zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Michael und zwei Schwestern in der Nachbarwohnung aufwuchs. Schon ihre Mutter ist in dieser Wohnung groß geworden und lebt 86-jährig heute noch dort. Deren Vater war als Bergmann auf Zollverein eingefahren und vererbte seiner Tochter, die einen Schlosser geheiratet hatte, das Wohnrecht im Drokamp und seinen Enkeln damit die Geborgenheit der Siedlung, die wie eine große Familie war. Ringsherum gab es unzählige Nachbarskinder, wilde Wiesen und Gärten mit Karnickelställen, Taubenschlägen, Obst- und Kohlbeeten.
Katernberg mit Optimismus und Tatkraft voranbringen
„Vierspänner“ nennt man diese Häuser - wegen ihres kreuzförmigen Grundrisses und weil in einem Haus vier Familien zwar bescheiden bis beengt, aber mit jeweils eigenem Eingang lebten. „Ich sehe uns noch auf den Stufen vor der Haustür sitzen“, erinnert sich die 52-jährige Anne Weisberg, „eine Stange Rhabarber in der einen Hand und eine Tasse mit Zucker zum Reinstippen in der anderen.“
Das Ruhrgebietsklischee von der weißen Wäsche, die man nicht draußen aufhängen kann, weil sie dort gleich wieder schwarz wird, das war damals noch Wirklichkeit. „Na und?“, zuckt Anne Weisberg die Achseln. „Dann wurde die Wäsche eben nur draußen aufgehängt, wenn der Wind günstig stand.“ Wichtig war anderes. Zum Beispiel, dass die Großmutter, wenn die Kinder vom Spielen im Schnee rotgefroren in die Küche gestürmt kamen, die Ofenklappe öffnete und ein Kissen für die Füße darauf legte, dass der Winter mit seinem kalten Atem die schönsten Eisblumen auf die Fensterscheiben blies oder dass es jeden Samstag nach dem verhassten Baden in der Keller-Zinkwanne Mutters köstliche Erbsensuppe gab.
So viel Heimat bindet. Anne Weisberg wohnt nur zwanzig Gehminuten von der Drokamp-Siedlung entfernt und arbeitet als Arzthelferin in einer Katernberger Praxis. Einmal hat sie es mit Rüttenscheid versucht. „Aber nur ganz kurz“, sagt sie, „das war einfach nicht meine Welt.“ In ihrer Welt gehört die offene und selbstbewusste Mutter zweier erwachsener Töchter zu den Aktiven, die den Stadtteil Katernberg mit Optimismus und Tatkraft voranbringen. Als die Zeche 1986 und die Kokerei Zollverein 1993 stillgelegt wurden, die Katernberg rund 150 Jahre zuvor aus seiner dörflichen Gemächlichkeit gerissen hatten, sah Anne Weisberg hinter den Schatten des Verlusts eine chancenreiche Zukunft aufleuchten. Sie freute sich über die Öffnung der ehemals „verbotenen Stadt“ und ihre kulturelle Neubelebung, engagierte sich in der Katernberg Konferenz, in der Zollverein Touristik, als ehrenamtliche Jugendrichterin und ließ sich zur Mediatorin für interkulturelle Konflikte ausbilden. Zusammen mit dem Imam aus der Nachbarschaft vermittelt sie in Streitfällen zwischen Deutschen und Zuwanderern. „Glücklicherweise selten“, sagt sie, „denn eigentlich kommen wir hier sehr gut miteinander aus.“
Gästebuch füllt sich mit herzlichen Worten
Als die Häuser der Drokamp-Siedlung zum Kauf angeboten wurden, war ihre Entscheidung schnell getroffen. „Mein erster Gedanke war: Mutter soll auf ihre alten Tage nicht aus der Wohnung ausziehen müssen, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hat und in der schon ihre Mutter jung war.“ Erst der zweite oder dritte Gedanke galt der Einrichtung einer Ferienwohnung – damals eine kühne Idee, denn Zollverein war um 2000 noch nicht Weltkulturerbe und Essen noch lange nicht zur europäischen Kulturhauptstadt nominiert, und ob jemals Touristen in nennenswerter Zahl den Weg nach Katernberg finden würden, schien zumindest fraglich.
Heute ist ihre Ferienwohnung meist auf Wochen im Voraus ausgebucht, und ihr Gästebuch füllt sich mit herzlichen Worten des Dankes und der Begeisterung für die persönliche Atmosphäre und das historische Ambiente. Da sind gemütliche Weichholzmöbel aus der Zwischenkriegszeit mit allem, was dazu gehörte: dem Keramik-Waschgeschirr auf der Kommode, dem Nachttopf unter dem Bett, dem gusseisernen emaillierten Kohleherd auf geschwungenen Füßen in der Wohnküche, der Zinkwanne, dem Waschbrett und dem Einmachkessel im Keller.Und im Schlafzimmer, wo der Dielenfußboden sich mit der Bergsenkung neigt, hängen das steifleinerne Brautnachthemd einer Urgroßtante und die Paradeuniform eines Musikers aus einer Bergmannskapelle, als wären sie gerade noch in Gebrauch gewesen.
Stück für Stück hat Anne Weisberg Geschichte zusammen getragen, nachdem sie die Wohnung auch baulich in den Ursprungszustand hatte zurück versetzen lassen, nur dass die Wärme heute nicht mehr, wie in ihrer Kindheit, vom knisternden Herdfeuer, sondern aus der Heizung kommt und dass die Karnickelställe einem Bad weichen mussten. So verbindet Anne Weisberg die Möglichkeit zu bewahren und zu zeigen, was ihr am Herzen liegt, mit einer zeitgemäßen neuen Nutzung. „Ich bin das Ruhrgebiet“, lacht sie, „das alte und das neue.“