Essen-Bergeborbeck. Im RWE-Stadion treffen sich Schüler zum Antidiskriminierungs-Training. Sie erzählen, warum „Halt die Fresse“ für sie normaler Umgangston ist.
Kann eine Äußerung beleidigend sein, obwohl ich sie gar nicht schlimm finde? Weil man doch immer so miteinander spricht? Und was ist, wenn mich ein anderer zuerst beleidigt hat? Fragen, die sich die Achtklässler der Gesamtschule Nord bisher nicht gestellt haben. Doch heute sollen sie genau das tun: im Stadion von Rot-Weiss-Essen, am „Lernort Hafenstraße“.
Bildungsprojekt von RWE sensibilisiert für Ausgrenzung und Diskriminierung
Im jüngsten Projekt des RWE-Vereins „Essener Chancen“ geht es, grob zusammengefasst, um Sozialkompetenz. Seit September 2023 haben Schüler und Schülerinnen aus Essener Förder-, Real- und Gesamtschulen die Möglichkeit, sich im Rahmen von Workshops mit Ausgrenzung und Diskriminierung zu beschäftigen.
Nicht in der Schule, sondern im RWE-Stadion, das für einen Tag zum Klassenzimmer wird. Angeleitet wird das Training von angehenden Lehrkräften; die fachliche Begleitung übernehmen das Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, das Jugendamt und das Kommunale Integrationszentrum.
Das Interesse der Essener Schulen am Antidiskriminierungs-Training ist groß
Tani Capitain, Geschäftsführer des Vereins Essener Chancen, ist sichtlich begeistert vom neuen Sozialprojekt: „Die Schulen fangen an, uns die Türen einzurennen“, sagt er. Auch das Interesse am zweiten Kursmodul zum Thema Nachhaltigkeit sei riesig. Aus seiner Sicht spielt der Ortswechsel für den Erfolg des Workshops eine wichtige Rolle: „Es funktioniert einfach komplett anders, als wenn wir in die Schulen gehen würden.“
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Die Stadion-Atmosphäre sei etwas Besonderes. „Einige von den Jugendlichen kennen das bereits, manche sind sogar Fans, für andere ist es eine ganz neue Erfahrung.“ Beeindruckt, auf die eine oder andere Weise, seien jedenfalls alle. Zumal man nach Möglichkeit auch versuche, beim Training der Spieler vorbeizuschauen.
Junges Team von Lehramtstudenten leitet die RWE-Workshops an
„Ein hohes pädagogisches Niveau“ sei Pflicht, das würde auch der Trägerverein mit Sitz in Berlin verlangen. Zudem frage man das Feedback der Schulen ab und könne die Inhalte den Erfordernissen und Wünschen anpassen.
Finanzierung für 2024 gesichert
Das Workshop-Konzept stammt aus Berlin, wo es vom bundesweit aktiven Verein „Lernort Stadion“ 2009 etabliert wurde. Dieser gibt auch den Rahmen für die Arbeit von „Lernort Hafenstraße“ vor. Wenn alles nach Plan läuft, wird das Essener Projekt bald in die Liste der festen Projektteilnehmer aufgenommen. Bisher sind das 25 Fußballvereine in ganz Deutschland.
Lernort Hafenstraße wird aktuell durch die Stadt Essen und die Stiftungen der Essener Sparkasse gefördert. Die Finanzierung sei bis zum Jahresende gesichert, sagt Tani Capitain, „danach müssen wir wieder auf die Suche gehen“.
Großen Anteil am Gelingen hat auch das junge Team, das den Workshop durchführt: Heute sind das Luca Ufermann, Erfan Zargar und Damla Coskun, die selbst angehende Lehrkräfte sind und ein gutes Gespür für den Umgang mit den Jugendlichen haben. Was sie sagen, scheint anzukommen und zu wirken. Angefangen bei grundlegenden Regeln: „Wenn ich rede, hört ihr zu, wenn ihr redet, höre ich zu. Das ist fundamental“, sagt Erfan Zargar. Allgemeines Nicken.
Bildungsprojekt von RWE verbindet Spiele mit Gesprächsrunden
Im Workshop wechseln sich Bewegungsspiele mit Reflexionsphasen ab. Der Ablauf richtet sich nach der jeweiligen Gruppendynamik und der Stimmung in den Klassen. „15 Workshops haben wir schon durchgeführt, den goldenen Weg für den Ablauf haben wir trotzdem nicht gefunden“, sagt Tani Capitain. „Ich fürchte auch, den finden wir nicht, denn jede Klasse ist anders.“
Rassismuserfahrungen gehören für viele Jugendliche in Essen zum Alltag
Für die Klasse 8a der Gesamtschule Nord geht es heute vor allem um Empathie und Respekt, Zusammenhalt und Konfliktlösungen. Gar keine einfachen Themen, wenn der eigene Alltag von Rassismus und Beleidigungen geprägt ist. Wer schon von fremden Personen beleidigt worden sei, will Erfan Zargar wissen. Fast alle. Und ob sie auch rassistisch beleidigt worden seien? Auch hier bejahen die meisten. So verwundert es nicht, dass auch der Umgangston untereinander eher rau ist. „‚Halt die Fresse!‘ heißt doch nur: ‚Sei leise!‘“, wirft ein Schüler ein, als es darum geht, negative und positive Aussagen einzuordnen. Eine Schülerin ergänzt: Wenn man etwas lustig sage, wie zum Beispiel ‚Du bist einfach nur dumm!‘ sei das gar keine Beleidigung.
Im Laufe des Workshops jedoch werden sie ihre Äußerungen stärker reflektieren, werden üben, sich in andere hineinzuversetzen und als Team statt gegeneinander zu arbeiten. Abschließend wird es auch darum gehen, wie sie sich selbst als Klasse bewerten, ob sie in Sachen Respekt beispielsweise noch besser werden möchten. „Wir hatten schon viele Klassen hier“, sagt Damla Coskun. Anfangs würden sich die Jugendlichen untereinander ständig beleidigen, aber „am Ende des Tages sehen wir auch, wie sie sich gegenseitig darauf hinweisen, dass das nicht ok ist“.
Wie nachhaltig der Effekt des Trainings ist, muss sich zeigen. Doch Tani Capitain ist überzeugt davon, dass immer etwas hängenbleibt. Immerhin meldet sich in einer der Gesprächsrunden eine Schülerin ganz unvermittelt mit einem Lob: „Wenn ich nochmal herkommen müsste, würde ich das diesmal auch freiwillig machen“.
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