Essen-Kray. Dieses Jahr sind mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Essen gekommen als in den Jahren davor. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Nach Essen kommen immer mehr sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Das sind Kinder und Jugendliche, die ganz ohne ihre Familien oder Erziehungsberechtigten in Deutschland ankommen. Während ihrer Flucht erleiden sie oft schwere Traumata und wenn sie dann in Essen angekommen sind, brauchen sie meist besondere Unterstützung.
- 2023 sind mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Essen gekommen als zu Hochzeiten der Fluchtbewegung aus Syrien
- Minderjährige Flüchtlinge warten oft monatelang auf einen Schulplatz in Essen
- Neues Projekt schafft Übergangslösung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Essen
Das Problem: Bis geflüchtete Kinder und Jugendliche einen Schulplatz in Essen bekommen, vergehen durchschnittlich sechs Monate, manchmal warten die Kinder sogar ein Jahr auf einen Schulplatz. Bis dahin fehlt ihnen oft jegliche Tagesstruktur und Unterstützung – die Kinder werden in der Regel entweder in Wohngruppen für Geflüchtete oder bei Familienangehörigen untergebracht. Das monatelange Ausharren ohne konkrete Aufgabe in einem fremden Land ist für die Jugendlichen eine gefährliche Kombination in einer ohnehin schwierigen Situation.
Essen: Minderjährige Flüchtlinge warten oft monatelang auf Schulplatz
Um die Überbrückungszeit zwischen Ankunft und Schulbeginn für minderjährige Flüchtlinge zu vereinfachen, hat der gemeinnützige Essener Träger „Plan B“ jetzt ein vom Essener Jugendamt finanziertes Projekt umgesetzt: Das Café Zukunftsjugend in Essen-Kray an der Krayer Straße 208 ist eine Art Sprachcafé, welches Jugendlichen durch die Zeit zwischen Ankunft und Schulbeginn hilft.
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Dort werden 25 Kinder und Jugendliche zwischen neun und 17 Jahren montags bis freitags täglich von 9.30 Uhr bis 15 Uhr betreut, dort musizieren sie gemeinsam, lernen Deutsch, machen Sport, erhalten politische und kulturelle Bildung, tauschen sich aus oder unternehmen Ausflüge. Neun Pädagoginnen und Pädagogen des Trägers Plan B kümmern sich abwechselnd um die Jugendlichen und sind Teil des Projekts.
Das „Café Zukunftsjugend“ gibt es seit dem 15. August 2023, und die Resonanz sei bislang extrem gut: Es gebe eine lange Warteliste, sagt Kathrin Boldrew, Fachbereichsleitung Bildung und Prävention bei Plan B. Denn welche Kinder und Jugendlichen im Sprachcafé aufgenommen werden dürfen, müssen Jugendamt und Plan B-Koordinatoren genau abwägen. Die Plätze sind begrenzt, es gibt nur 25, und der Bedarf ist groß.
Oft werden Kinder bevorzugt, die hier in Essen etwa bei Verwandten untergebracht sind und nicht in Sammelunterkünften oder Wohngruppen wohnen – denn in Wohngruppen gebe es schon eine gewisse Tagesstruktur und pädagogische Betreuung, während die Kinder, die bei ihren Verwandten untergebracht werden, meist gar keine Struktur in ihrem Alltag hätten.
Im Jahr 2023 mehr minderjährige Flüchtlinge denn je in Essen aufgenommen
„Der Bedarf am Projekt ist riesig“, sagt Boldrew. Denn tatsächlich ist die Zahl der minderjährigen Flüchtlinge in Essen im vergangenen Jahr enorm angestiegen: 25 Prozent der Geflüchteten, die in Essen untergebracht werden, waren in diesem Jahr laut Jugendamt jünger als 14 Jahre. Zum Vergleich: Im Jahr 2016 waren nur vier Prozent der Flüchtlinge unter 14 Jahre alt.
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Die meisten Flüchtlinge, rund 38 Prozent der Jugendlichen, sind dieses Jahr aus Syrien nach Essen gekommen. Dass nach Essen besonders viele Syrer kommen, liege vermutlich daran, dass die syrische Community in Essen recht groß sei und die Kinder oft bereits Verwandte in Essen hätten, bei denen sie Unterschlupf finden, sagt Josianna Gronwald vom Essener Jugendamt.
Auch in der Gesamtzahl sind 2023 mehr minderjährige Flüchtlinge denn je nach Essen gekommen: Bis Mitte November wurden in diesem Jahr laut Jugendamt bereits 282 minderjährige Flüchtlinge in Essen registriert. Zur Spitze der Fluchtbewegung aus Syrien im Jahr 2016 waren es 279 im ganzen Jahr.
Asylprozess auch bei minderjährigen Flüchtlingen oft langwierig und zäh
Erklären lässt sich das laut Gronwald vor allem damit, dass Familien ihre minderjährigen Kinder nach Deutschland „vorschicken“, damit sie irgendwann nachrücken können. Minderjährige können nicht abgeschoben werden und es ist für sie leichter, die oft beschwerliche Fluchtroute nach Deutschland anzutreten. „Viele syrische Familien zahlen viel Geld dafür, dass ihre Kinder illegal nach Deutschland transportiert werden“, sagt Plan-B-Projektkoordinatorin Angelina Nehring. „Da werden alle Klischees bedient, die man hier so haben mag: Die Kinder müssen sich in Säcken verstecken oder werden in Schleuserfahrzeugen über die Grenzen gebracht.“ Viele der Jugendlichen kämen auch zu Fuß nach Deutschland.
Laut Nehring bekommen viele der Jugendlichen in ihren Herkunftsländern den klaren Auftrag vermittelt, dafür zu sorgen, dass ihre Familien irgendwann nachkommen können. Doch das sei meist gar nicht so einfach: Bis das Jugendamt einen gesetzlichen Vormund für die Kinder festgelegt hätte, könnten Wochen oder Monate ins Land gehen.
Im nächsten Schritt müsse der Vormund einen Asylantrag für das Kind stellen, der dann vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geprüft werden muss. Außerdem kennt das Asylrecht verschiedene Schutzformen, von denen nicht alle einen Familiennachzug erlauben. Für die Kinder, die ihre Angehörigen oft schmerzlich vermissen und auf denen auch seitens ihrer Familien ein gewisser Erfolgsdruck lastet, ist dies oft eine unerwartete und ernüchternde Erkenntnis.
Jugendliche Flüchtlinge kommen oft mit klarem Auftrag nach Deutschland
Dass die Kinder ihre Familien nicht sehen, sei sowieso die größte Herausforderung für sie, sagt Boldrew. Die Pädagoginnen und Pädagogen im Café Zukunftsjugend sind alternative Bezugspersonen für die Kinder. Viele von ihnen sprechen selbst Arabisch, sodass die Kinder auch in ihrer Muttersprache mit ihnen sprechen und sich so ein bisschen besser ausdrücken können.
Mit dem Pädagogen Mohammad machen die Kinder zum Beispiel einmal die Woche Musik. Heute proben sie deutsche Weihnachtslieder für die Weihnachtsfeier der Jugendgruppe am 21. Dezember. Mohammad ist selbst 2015 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet und kann sich gut in die Kinder hineinversetzen. Als die Kinder uns auf Arabisch von ihren Erfahrungen berichten, fungiert Mohammad als Mediator und übersetzt die Worte der Kinder ins Deutsche.
Einer der Jugendlichen ist Amir* (Name geändert). Der 15-jährige Syrer lebt seit sieben Monaten in Deutschland. Er wohnt in einer sogenannten Inobhutnahmestelle für Geflüchtete im Essener Stadtteil Frohnhausen. In Essen fühle er sich wohl, sagt er, denn hier sei er in Sicherheit. Er hofft, dass seine Familie bald auch hierher kommen kann. Irgendwann möchte er studieren – bis dahin sei es sein Ziel, sich hier in Deutschland gut zu integrieren und die Kultur besser kennenzulernen.
Kulturschock für zwölfjährige Syrerin: Halloween-Partys in Deutschland
Auch die zwölfjährige Sinda* (Name geändert) wird im Café Zukunftsjugend betreut. Sie ist seit vier Monaten in Deutschland, wohnt hier bei ihrer Oma in Altendorf. Ihre Großmutter lebt seit neun Jahren in Deutschland, sagt sie. Sinda vermisst ihre Familie. Sie möchte noch besser Deutsch lernen, irgendwann studieren und Ärztin werden. Ein Kulturschock sei es in Deutschland für sie gewesen, zu sehen, dass die Leute Halloween feiern und sich gruselig verkleiden – das habe sie so aus ihrer Heimat nicht gekannt.
>>> Info: Das Café Zukunftsjugend freut sich über Spenden
- Essens- oder Geldspenden (keine Sachspenden) für das „Café Zukunftsjugend“ nimmt das Team von Plan B gerne entgegen. Die Gruppe isst mittags gemeinsam und freut sich dafür über jegliche Unterstützung. Dafür bestehen beispielsweise schon Kooperationen mit der Krayer Lidl-Filiale sowie vielen arabischen Läden im Umkreis.
- Auch über ehrenamtliche Unterstützung freut sich das Team von Plan B.
- Wer spenden oder mithelfen möchte, muss sich im Vorfeld bei a.nehring@planb-ruhr.de oder unter 01522 8773928 melden.
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