Essen. Es brauche einen „Strauß an Maßnahmen“, um illegale Zuwanderung zu begrenzen, so Essens Sozialdezernent. Geld sei nicht Hauptmotiv für Flucht.
Aus einigen Städten in NRW kommt scharfe Kritik an der Vereinbarung zwischen dem Bundeskanzler und den Regierungschefs der Länder, Flüchtlingen in Gemeinschaftsunterkünften künftig in der Regel Sachleistungen statt Bargeld auszuzahlen. Die geplante Bezahlkarte sei realitätsfern, erklärte etwa der Dezernent für Migration der Stadt Krefeld, Andreas Pamp. In Krefeld bezögen derzeit 400 Menschen Asylbewerberleistungen: „Soll ich künftig 400 Klientinnen und Klienten monatlich bei mir begrüßen, um eine Bezahlkarte aufzuladen?“
Dabei soll die Maßnahme – wie verschärfte Grenzkontrollen und schnellere Abschiebungen – dazu beitragen, Zuwanderung zu begrenzen und die Kommunen so zu entlasten. Eine Arbeitsgruppe soll bis Ende Januar 2024 ein Modell für eine Bezahlkarte erarbeiten, das dann bundesweit genutzt werden soll. Im Interview erklärt Essens Sozialdezernent und Stadtdirektor Peter Renzel, was er von der Bezahlkarte hält – und welche Instrumente er für wichtig hält, um illegale Zuwanderung zu begrenzen.
Herr Renzel, glauben Sie, dass unsere Sozialleistungen ein sogenannter Pull-Faktor für Flüchtlinge sind: Also, dass sie das Geld motiviert, die Flucht überhaupt anzutreten oder Deutschland als Ziel anzusteuern?
Renzel: Menschen in aller Welt fliehen vor allem vor Krieg und Gewalt in ihrer Heimat. Sie fliehen vor den Verletzungen ihrer Menschenrechte, weil sie wegen ihrer Religion, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer politischen Gesinnung oder ihrer sexuellen Neigung verfolgt, bedroht oder diskriminiert werden. Aber sie fliehen auch auf Grund von Hungersnöten, vor Dürre und Hitze. Sie fliehen, weil sie in ihren Heimatländern keinerlei Lebens- und Zukunftsperspektiven für sich und / oder ihre Familien sehen.
Die Menschen haben also ganz andere Motive?
Allein die Auszahlung von Sozialleistungen in Europa und besonders in Deutschland selbst dürfte aufgrund der oben dargestellten Ausgangsmotivation m. E. nicht der ursprünglichste Grund sein, die Heimat zu verlassen. Die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren zeigen, dass die Perspektive auf ein Leben in Frieden, Freiheit und einer wirtschaftlichen Existenz bei den allermeisten Jugendlichen, Frauen und Männern primäres Motiv ist. Die Menschen zieht es darüber hinaus dort hin, wo schon Kontakte bestehen.
Demnach spielt Geld keine große Rolle?
Im europäischen Vergleich ist in Deutschland das vom Bundesverfassungsgericht klar gestellte Existenzminium vergleichsweise hoch. Dies richtet sich allerdings auch nach anfallenden Lebenshaltungskosten.
Kann eine Umstellung auf Sachleistungen oder Bezahlkarten abschreckend wirken?
Um vor allem illegale Zuwanderung einzudämmen, braucht es einen ganzen Strauß an Maßnahmen. Dazu zählt auch, dass ein möglicher Missbrauch oder ein Ausnutzen unserer Systeme weiter erschwert wird. Dazu kann die Umstellung auf Sachleistungen beitragen.
Wie könnten weitere Instrumente aussehen?
Viele Experten – wie zum Beispiel der Migrationsforscher Gerald Knaus – sagen, Asylverfahren außerhalb Europas durchzuführen, wie der UNHCR (UN-Flüchtlingshilfswerk) das in Ruanda tue, sei möglich. Also sollte sich die Bundesregierung konsequent darum kümmern, dass erst gar kein Ankommen in Europa und Deutschland für die Menschen möglich ist, die keine Aussicht auf Anerkennung haben.
Viele Flüchtlinge wählen schon heute keine offiziellen Wege, um nach Europa und dort nach Deutschland zu gelangen…
Daher gehört zu den Maßnahmen im Übrigen auch, dass die Bundesregierung zum Thema Grenzschutz im eigenen Land, aber auch mit anderen europäischen Ländern, zu neuen und verlässlichen Abkommen kommen muss, damit Menschen, die keine nachvollziehbare Identität und ihr Herkunftsland vorweisen können und keinerlei Aussicht auf eine Anerkennung in Europa und Deutschland haben, abgewiesen werden.
Gibt es in der Stadt Essen schon Pläne, wie man die Leistungen für Asylbewerber umstellen könnte? Hat die Stadt schon mit dem Einzelhandel über die Annahme von Bezahlkarten gesprochen?
Die Bundesregierung hat mit der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung des geforderten Lösungsansatzes eingesetzt. Diese hat jetzt bis Ende Januar Zeit ihre Ergebnisse vorzulegen. Ich bin sehr gespannt wie diese aussehen.
Und dann müssen die Städte sehen, wie sie die Pläne der Arbeitsgruppe vor Ort umsetzen?
Ich fordere, dass wir als Kommunen, die das ganze letztlich operativ umsetzen müssen, frühzeitig eingebunden werden. Wir benötigen grundsätzlich bei neuen Systemen und Gesetzen einen frühzeitigen Praxistest und die Analyse, was neue Verfahren kosten und wer bezahlt. Theorie reicht nicht, es muss auch funktionieren und verlässlich abgearbeitet werden. Wenn sich bald abzeichnet, wie sich Bund und Länder verständigen und es organisiert werden soll, werden wir das fachlich und fiskalisch bewerten und uns in diese Entwicklung einbringen.
Schon 2013 schlug Renzel Sachleistungen vor
Sozialdezernent Peter Renzel hatte selbst vor zehn Jahren vorgeschlagen, Flüchtlingen kein Geld mehr auszuzahlen, sondern Sachleistungen auszugeben. 2013 ging es um den Zuzug von Roma aus Serbien und Mazedonien. Renzels Vorstoß wurde von Wohlfahrtsverbänden, Linken und Grünen als entwürdigend kritisiert; auch hieß es, Sachleistungen seien komplizierter zu händeln. Der Plan wurde nie umgesetzt.
Dazu erklärt Renzel heute: „Mein damaliger Vorstoß kam nach einer Reise in zwei Balkanstaaten zustande, weil die dortigen Fachleute uns deutlich gemacht haben, dass die sogenannte Winterwanderung von Bürgern aus dem Balkan nur dann zu unterbinden ist, wenn wir ihnen in unseren Einrichtungen kein Bargeld auszahlen, da dieses angespart würde, um zum Ende des Winters nach der Rückreise ins Heimatland die Ersparnisse für den Lebensunterhalt in Frühjahr und Sommer zu nutzen. Dieser Zusammenhang ist heute nicht mehr herstellbar, weil die Winterwanderung keine Rolle mehr spielt.“