Essen-Holsterhausen. Nataiia Iesyk floh mit Sohn und Tochter aus Kiew nach Essen. Heute hilft sie als Therapeutin Ukrainern mit Kriegstrauma und krebskranken Kindern.

Nataiia Iesyks (40) Tochter Maryna war erst zwei Monate alt, als ihr auffiel, dass mit den Pupillen der Kleinen etwas nicht stimmte. Diagnose: Retinoblastom, ein seltener, praktisch ausschließlich im Kindesalter auftretender, bösartiger Tumor des Auges. Maryna wurde 2010 in der Essener Uniklinik behandelt, die auf diesen Tumor spezialisiert ist. Währenddessen wohnte die Familie im Elternhaus der Elterninitiative zur Unterstützung krebskranker Kinder in Holsterhausen. Dorthin kehrten sie zurück, als der Krieg in der Ukraine ausbrach. Jetzt hilft Iesyk dort anderen Familien.

Maryna ist inzwischen kein kleines Mädchen mehr, sie ist 13 Jahre alt. In der Essener Uniklinik bekam sie insgesamt sechs Blöcke Chemotherapie. Nach drei Blöcken wurde ihr das betroffene Auge entfernt und durch eine Prothese ersetzt. Danach folgten weitere drei Blöcke Chemo. Das verbleibende Auge behandelte man zusätzlich mit einer Lasertherapie. Bis heute ist Maryna tumorfrei. Nach Abschluss der Behandlung im Jahr 2011 kam die Familie in immer größeren Abständen zu Kontrolluntersuchungen ins Elternhaus. Dann brach 2022 der Krieg in der Ukraine aus.

Ukraine-Krieg: Essener Elternhaus war 2022 teilweise komplett voll

Nach Einmarsch der russischen Truppen meldeten sich viele ukrainische Familien, die schon einmal mit ihren krebskranken Kindern in Holsterhausen untergekommen waren, bei der Elterninitiative. Geschäftsführerin Lara Krieger berichtet, dass das Elternhaus im vergangenen Jahr teilweise komplett voll war. Auch Nataiia Iesyk meldete sich bei der Holsterhauser Einrichtung, die für ihre Familie in den vergangenen Jahren ein zweites Zuhause geworden war.

„Ich habe alles gepackt, was wir mitnehmen konnten, und habe mit den Kindern Kiew verlassen“, erzählt sie. Neben Tochter Maryna hat sie noch einen 16-jährigen Sohn, Mykyta. Ihr Mann Taras, Software-Programmierer bei einer IT-Firma, musste zurückbleiben. Dreimal konnte er seine Familie bis jetzt in Essen besuchen, jedes Mal mussten sie sich wieder verabschieden.

In ihrer Heimatstadt hatte Nataiia Iesyk als Psychologin an einer Schule gearbeitet. Nach wenigen Monaten beschloss sie, dass sie in Essen anderen Ukrainerinnen und Ukrainern helfen möchte. „Das ist einfach wichtig, für Kinder und Erwachsene. Keiner weiß, wann der Krieg zu Ende ist“, sagt sie. Also machte sie online eine Weiterbildung für Kriegstraumata und begann – zunächst ehrenamtlich – bei der Elterninitiative zu arbeiten. Im Elternhaus beriet sie ukrainische Kinder-, Jugend- und Erwachsenengruppen therapeutisch. „Zu der Zeit hatten wir rund 15 Flüchtlingsfamilien mit krebskrankem Kind im Elternhaus“, berichtet Geschäftsführerin Lara Krieger.

Für Familie Iesyk aus der Ukraine ist das Haus der Essener Elterninitiative zur Unterstützung krebskranker Kinder ein zweites Zuhause geworden. Als der Krieg begann, kamen sie dort unter.
Für Familie Iesyk aus der Ukraine ist das Haus der Essener Elterninitiative zur Unterstützung krebskranker Kinder ein zweites Zuhause geworden. Als der Krieg begann, kamen sie dort unter. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Ukrainische Psychologin hilft in Essen Erwachsenen und Kindern

Bei einem Gruppentherapie-Angebot für sechs- bis elfjährige ukrainische Kinder bringen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Gefühle auf Papier.
Bei einem Gruppentherapie-Angebot für sechs- bis elfjährige ukrainische Kinder bringen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Gefühle auf Papier. © Elterninitiative

„Für mich war das eine neue Erfahrung“, schildert Iesyk. An der Kiewer Schule hätten sich die Probleme ihrer jungen Klientinnen und Klienten meist um mangelnde Motivation fürs Lernen oder Streit mit Eltern und Lehrern gedreht.

Jetzt betreut sie unter anderem Menschen, die aus russisch besetzten Gebieten kommen, unter Umständen Familienangehörige verloren haben – und gleichzeitig Eltern, deren Kinder Krebs haben oder sogar hier daran gestorben sind. Den ukrainischen Kindern versucht sie, bei der Verarbeitung des Erlebten zu helfen, auch auf spielerische und kreative Art und Weise.

So stellt sie bei der Gruppentherapie für Kinder Oberbegriffe in den Mittelpunkt, etwa „sicherer Ort“. Die Kinder sollen sich dann überlegen, wie der Begriff aussehen könnte, ihn malen oder beschreiben, wie er sich für sie anfühlt. Ein anderes Mal sollten sie negative Gefühle mit ihrer Mimik ausdrücken. Viele Erwachsene belasten die Sorgen um Angehörige in der Ukraine, berichtet die Therapeutin. „Das sind zum Beispiel Mütter, die alleine mit ihren Kindern hier sind, während der Vater in der Ukraine bleiben musste“, erklärt sie. Auch die Integration in Deutschland, etwa das Lernen der Sprache, beschäftige viele. Und nicht zuletzt seien es trotz des großen Leids auch die kleinen, die „ganz normalen“ Problemchen, die sie mit ihren Klienten bespricht: „Da ist auch die Mutter, die wissen will, wie sie mit ihrem Teenager umgehen soll.“

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Ukrainische Familie lebt inzwischen in ihrer eigenen Wohnung in Essen-Holsterhausen

Zum Teil über die Finanzierung der Stiftung „Ein Herz für Kinder“ konnte die Elterninitiative Nataiia Iesyk schließlich in Teilzeit einstellen. Von Dezember 2022 bis Mai 2024 ist ihr Job gesichert. „Wir bemühen uns um Mittel, dies weiter fortführen zu können“, betont Lara Krieger. Neben den Gruppen führt die Psychologin heute auch Einzelgespräche. Sie selbst wohnt mit ihren Kindern mittlerweile nicht mehr im Elternhaus, sondern in einer eigenen Wohnung in Holsterhausen, die Kinder gehen auf das Burggymnasium. Alle drei lernen fleißig Deutsch.

„Für uns ist das hier ein sicherer Ort“, sagt der 16-jährige Sohn Mykyta. Sie hätten in der ukrainischen Community Freunde gefunden, auf ihrer Schule seien alleine 20 bis 30 andere ukrainische Jugendliche. Trotzdem vermissen sie ihr Zuhause und wünschen sich, zu Freunden und Familie nach Kiew zurückkehren zu können, wieder mit ihrem Vater zusammenzuwohnen. Doch wann das möglich sei, stehe in den Sternen, sagt Nataiia Iesyk: „Wir wissen nicht, wie es weitergeht.“

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