Essen-Holsterhausen. Die Familie Lapchak ist aus der Ukraine geflohen. Vater, Mutter und drei Kinder haben Krebs und sind entweder nahezu oder vollständig blind.
Wenn die Lapchaks gehen, dann tun sie das mit langsamen Schritten. Schützend streckt Mutter Galina die Hand nach ihren Kindern aus. Genau wie ihr Sohn Dmytro (11) ist sie blind, Vater Viktor sieht gerade einmal 20 Prozent, den beiden Töchtern (14 und 15) ist je ein Auge entfernt worden. Die ganze Familie leidet unter einem seltenen Netzhauttumor. Eine Katastrophe in der Ukraine, wo derzeit heftig gekämpft wird. Doch die Lapchaks haben es geschafft. Vorerst leben sie nun bei der Essener Elterninitiative zur Unterstützung krebskranker Kinder in Holsterhausen.
Viktor und Galina Lapchak erinnern sich noch genau an den Morgen, an dem aus dem Schlaf hochschreckten. Zwar ist ihre Heimat Lwiw (Lemberg) im Westen der Ukraine bis heute noch weitgehend von russischen Angriffen verschont geblieben, doch auch dort heulten um sechs Uhr morgens die Sirenen. „Eigentlich war das für uns ein ganz normaler Morgen. Wir wollten aufstehen, die Kinder sollten in die Schule“, beschreibt Galina Lapchak. Dann hätten sie das Radio angeschaltet und gewusst: Es ist Krieg.
Ukrainische Mutter: „Wir hatten Angst, unser Leben zu verlieren“
Tage- und wochenlang vor seinem Einmarsch hatte der russische Präsident Wladimir Putin immer schärfere Drohgebärden an den Tag gelegt, Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert. Dass es tatsächlich eine kriegerische Auseinandersetzung geben würde, habe sich schon lange angedeutet, bestätigt Viktor Lapchak. „Aber irgendwie haben wir es doch nicht geglaubt.“ Auf schmerzhafte Weise wurden sie eines besseren belehrt.
Immer in Kontakt mit der Familie: die Übersetzerin Angela Syriax aus Duisburg, die auch bei unserem Gespräch dolmetscht. Sie begleitet die Lapchaks schon seit zehn Jahren. „Ich habe ihnen sofort gesagt: Ihr müsst da raus“, sagt Syriax. Eine behinderte Familie im Krieg, das sei hochgefährlich. Zuerst hätten sie bleiben wollen, doch beim nächsten Anruf seien sie dann schon auf der Flucht gewesen.
„Wir hatten Angst, unser Leben zu verlieren“, sagt Galina Lapchak. Und Viktor Lapchak ergänzt: „In unserem Keller gibt es keinen Platz, sich zu verstecken.“ Wegen seines Behindertenstatus war der Familienvater nicht wie andere Männer verpflichtet, in der Ukraine zu bleiben und zu kämpfen.
Familie reiste aus der Ukraine bis nach Essen
Acht Kilometer liefen sie zu Fuß vom anderen Ende der Stadt zum Lwiwer Bahnhof, wo der rettende Zug nach Polen wartete. Nur mit einem kleinen Koffer und einer Tasche als Gepäck waren sie zweieinhalb Stunden unterwegs. In der großen Menschenmenge verloren sie zwischenzeitlich sogar zwei der Kinder. Ihr Glück: Die Lapchaks haben noch einen Sohn, 25 Jahre alt, der selbst schon Frau und Kinder hat. Er ist der einzige aus der Familie, der nicht an Krebs erkrankt ist und deshalb uneingeschränkt sehen kann. So konnte er seine Eltern führen und fand die beiden Kinder wieder, die verloren gegangen waren.
Während er mit seiner eigenen Familie in Polen blieb, um näher an der Heimat zu sein, ging es für die übrigen Lapchaks weiter nach Deutschland. Übersetzerin Angela Syriax hatte den Transport organisiert und stellte ihnen die erste Unterkunft in Duisburg zur Verfügung. Dann ging es weiter nach Essen. Familie Lapchak kennt die Holsterhauser Elterninitiative gut. Sie wohnen immer hier, wenn ihre Kinder zur Kontrollbehandlung in die Essener Uniklinik müssen.
Essener Elterninitiative beherbergt Familien mit krebskranken Kindern
Galina und Viktor Lapschak, die beide an einem Tumor der Netzhaut leiden, lernten sich auf einer Schule für blinde Kinder kennen und lieben. Weil ihr Krebs genetisch bedingt ist, erkrankten auch drei ihrer gemeinsamen Kinder daran. Auf der Suche nach einer Behandlungsmöglichkeit stieß das Paar auf die Essener Uniklinik, die auf die Behandlung des sogenannten Retinoblastoms – die seltene Krebserkrankung des Auges – spezialisiert ist. Mittlerweile ist die Therapie der Kinder hier abgeschlossen. Einmal im Jahr kommt die Familie aber zu Kontrolluntersuchungen nach Essen. Zuletzt noch im Januar.
Diesmal werden sie länger bleiben. Unmöglich zu sagen, wann der Krieg endet. Als unser Gespräch auf dieses Thema kommt, meldet sich zum ersten Mal die 15-jährige Olena zu Wort. „Wir haben unsere Heimat verloren“, sagt sie. Dennoch, das bejahen alle aus der Familie, hoffen sie, dass sie irgendwann wieder in die Ukraine zurück können. Wann das sein wird, weiß niemand.