Essen. In Schweden tobt ein brutaler Krieg verfeindeter Banden um Drogen und Geld. Selbst Kinder werden ermordet. Ein Essener Polizist war mittendrin.

Das idyllische Bild von Bullerbü hat tiefe Risse bekommen. Abseits der Faszination der Fjorde und der Schönheit der Schären zeigt die Kriminalität in Schwedens Metropolen Göteborg, Malmö, Uppsala und vor allem Stockholm die hässlichste aller Fratzen. In so erbitterten wie blutigen Kriegen rivalisierender Banden sind selbst Morde an Kindern kein Tabu mehr. Es geht um Drogen, um Reviere und viel Geld.

Jeden Tag fällt irgendwo mindestens ein Schuss. Sieben Menschen wurden binnen zehn Tagen rund um die Hauptstadt umgebracht, jüngst zwei Männer in einem Pub in der Kleinstadt Sandviken gut 160 Kilometer weiter nördlich getötet. Immer wieder sind Minderjährige beteiligt – als Täter und als Opfer. Eine nie gekannte Gewaltwelle zieht ausgerechnet durch das Land, das einst als Leuchtturm für Friedlichkeit, Freiheit und Freizügigkeit in Europa stand. Eine Nation steht unter Schock. Ein Essener war mittendrin.

Pascal Pettinato (re.) mit seinem schwedischen Kollegen Christian Jensen.
Pascal Pettinato (re.) mit seinem schwedischen Kollegen Christian Jensen. © Polizei Essen

Zwei Wochen lang hat Pascal Pettinato, Sprecher der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) gegen Clankriminalität der Polizei Essen, zusammen mit einem Kripo-Kollegen der Behörde an der Büscherstraße die „Polis“ in die Ghettos Göteborgs begleitet, ist mit den schwedischen Beamten in die Brennpunkte gegangen und wurde bei einem Einsatz im strömenden skandinavischen Regen „nass bis auf die Unterhose“. Neben einer dicken Erkältung hat der 34-Jährige jede Menge Eindrücke und Erkenntnisse mitgebracht.

Männer aus dem Milieu wussten von dem Besuch aus Deutschland

Und eine ganz besondere Erinnerung – an eine Szene, die auch in der Essener Innenstadt hätte spielen können. Drei Männer, die mit ihren Nobelkarossen an einer Tankstelle Göteborgs standen, grüßten vermeintlich freundlich. Sie wussten bereits, wer der blonde Beamte in der fremden Uniform war, der da in Begleitung ortskundiger Beamter aufkreuzte: Ein deutscher Polizist, der zu Hause die Clan-Kriminalität bekämpft. Der Besuch sprach sich offenbar schnell im Milieu herum, nachdem ein Radiosender über den Aufenthalt Pettinatos berichtet hatte und welche Kontakte die schwedischen Behörden zu den Essenern pflegen.

„Habt ihr auch Explosionen und Schießereien in Essen?“, wollte eine Delegation aus dem hohen Norden, wo Kriminelle ihren Rivalen die Häuser unterm Hintern wegsprengen, bei ihrer ersten Stippvisite 2018 im hiesigen Präsidium wissen. Zum Glück nicht. Das hat sich bis heute nicht geändert, „obwohl die hier auch die Waffen haben“, weiß Pascal Pettinato, und Essen mit 736 Straftaten arabisch-türkischen Hintergrunds nach wie vor als Clan-Hochburg in Nordrhein-Westfalen gilt - durchaus mit Verbindungen zu Großfamilien in Schweden.

Mit Kameras werden die Plattenbausiedlungen in Göteborg lückenlos überwacht.
Mit Kameras werden die Plattenbausiedlungen in Göteborg lückenlos überwacht. © Polizei Essen

Wobei die Unterschiede gravierender kaum sein könnten, was das Ausmaß der Gewalt und die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung angeht. Während man sich hier mit Tumultlagen herumschlagen muss, bei denen sich gewaltbereite Mitglieder der Clans gegenseitig verprügeln, ist das Mittel der Wahl in Schweden mit den Jahren eskaliert: Man erschießt sich lieber gleich gegenseitig. Dass dabei regelmäßig Unbeteiligte sterben, die zufällig zwischen die Fronten geraten, interessiert die Täter keinen Deut. Warum die Entwicklungen hier und dort weit auseinandergedriftet sind, darüber streiten sich die Experten.

Die Verbrecherklientel in den Hotspots ist eine andere

Eine Erklärung ist: Die Verbrecherklientel in den schwedischen Hotspots ist eine andere, sagt Pettinato. Sie werden die „Gangs of Stockholm“ genannt. Kriminelle Banden, zusammengewürfelt aus den herangewachsenen Kindern von Flüchtlingsfamilien unterschiedlicher Herkunft, die in Plattenbausiedlungen leben und in den Blocks auf die schiefe Bahn geraten sind – meist, weil Kriminelle sie für ihre Zwecke rekrutiert haben, wie Pascal Pettinato erfahren hat. In manchen Quartieren sind fast 90 unterschiedliche Nationalitäten zu finden. „Ein bis zwei Prozent von denen machen Ärger“. Allerdings gewaltigen.

Und so setzt es sich fort mit der Nachwuchsgewinnung in den somalischen, afghanischen und irakischen Milieus, die mittlerweile aber auch Verbindungen zu arabischen Clans suchen. Die inzwischen erwachsenen Drogendealer mit vermeintlich cooler Gangsteraura verteilen scheinbar großzügig Geld und Handys an Schüler mit der Aufforderung: „Geh mal was verkaufen, ist nicht so schlimm.“ Ist es in der Tat meist nicht. Weil schwedische Gesetze für Jugendliche mildere Strafen vorsehen als etwa das deutsche Recht, haben die kleinen Kriminellen so gut wie keine Konsequenzen zu fürchten.

Die Banden in Schweden schrecken selbst vor Wohnhaussprengungen nicht zurück: Ende September kam eine 25-Jährige in einem Wohngebiet in Storvreta außerhalb von Uppsala ums Leben.
Die Banden in Schweden schrecken selbst vor Wohnhaussprengungen nicht zurück: Ende September kam eine 25-Jährige in einem Wohngebiet in Storvreta außerhalb von Uppsala ums Leben. © dpa | Anders Wiklund

Inzwischen hat Schweden unter anderem das NRW-Präventionsprojekt „Kurve kriegen“ gegen zunehmende Kinder- und Jugendkriminalität adaptiert, um den Nachwuchs möglichst frühzeitig von der schiefen Bahn holen zu können, gleichzeitig aber auch die repressiven Befugnisse seiner „Polis“ sowie deren technische Ausstattung massiv ausgebaut. „Die Polizei in Schweden bekommt so ziemlich alles, was sie braucht oder haben will“, hat Pettinato erfahren.

Viele Überwachungskameras sind längst kein Tabu mehr

Galten Überwachungskameras in Schweden lange Zeit als ein Tabu, scheinen die Datenschutzbedenken unter der Kriminalitätslast komplett zerbröselt zu sein. Beamte auf einer eigens dafür eingerichteten Dienststelle führen allein in Göteborg Regie über 150 Überwachungskameras, eine davon steht direkt vor dem Haus einer Clan-Größe, während sich die Essener Leitstelle nach wie vor auf die Videobeobachtung am Rheinischen Platz beschränken muss.

„Jeder Polizist kann mit seinem Handy auf jede Kamera zugreifen“, weiß Pascal Pettinato: „Alles wird protokolliert“ und die Justiz bewertet die Notwendigkeit der Überwachung innerhalb bestimmter Fristen immer wieder neu. Diese Kontrollen seien konsequent und „die Leute stört’s nicht mehr“. Möglichkeiten wie diese mag der Innenminister jüngst im Innenausschuss des NRW-Landtages vor seinem inneren Auge gesehen haben, als sich die Diskussion um die nicht zuletzt wegen zu schlechter Bildqualität eingestellten Verfahren nach der Clan-Randale im Sommer auf dem Salzmarkt drehte. Nicht ohne Grund regte Herbert Reul in der Sitzung mehr Videoüberwachung in den Innenstädten an, um etwaige Tumultlagen und andere Vergehen mit hochauflösenden Bildern gerichtsfest dokumentieren zu können.

Im Juni starb ein 15-Jähriger bei einer Schießerei an einem Shopping Center südlich von Stockholm.
Im Juni starb ein 15-Jähriger bei einer Schießerei an einem Shopping Center südlich von Stockholm. © AFP | Jessica Gow/TT

Das Netz der Finanzkontrolle enger ziehen

Bei Verkehrskontrollen in Schweden können Beamte nicht nur die Daten des Halters, sondern auch sein Konterfei abrufen. Mit den persönlichen Informationen erscheint, ob eine gerichtliche Forderung etwa wegen Steuerschulden vorliegt. Möglichst Zugriff auf das Geld gewisser Kreise zu haben, sei ein wichtiges Instrument bei der Bekämpfung der Clan-Kriminalität, wird auch in Essen immer wieder betont. Doch bei der Verkehrsüberwachung gleichzeitig das Netz der Finanzkontrolle in weitaus mehr Fällen enger ziehen zu können - das bleibt den hiesigen Polizeibeamten auf der Straße verwehrt.

Findet ein schwedischer Beamter bei einer solchen Gelegenheit auch noch Cannabis, kann ohne gerichtlichen Beschluss spontan eine Wohnung durchsucht werden. „Es gibt da viel Ermessensspielraum, mehr als hier“, hat der Essener Polizeihauptkommissar im hohen Norden erfahren.

Schweden, ein Königreich für Polizeiarbeit also? Pascal Pettinato schüttelt den Kopf: „Ich verzichte lieber auf die rechtlichen Möglichkeiten, wenn wir dafür in Essen keine Schießereien und Explosionen haben.“