Essen. Wo sich Spuren des jüdischen Lebens in der Essener Innenstadt finden lassen? Ein Rundgang lieferte jüngst Antworten auf diese Frage.
Die Bilder der Angriffe der radikal-islamischen Hamas auf Israel schockieren – auch in Essen. Wie üblich zeigt die hiesige Polizei auch in diesen Tagen etwa an der Alten Synagoge am Steeler Tor Präsenz. Wie notwendig solch ein Vorgehen leider ist, zeigt etwa der Vorfall vor fast einem Jahr, als auf das Rabbinerhaus neben dem imposanten Gebäude geschossen wurde.
Nun, im Oktober 2023, rückt das jüdische Leben durch die Geschehnisse im Nahen Osten auch in Deutschland wieder in den Fokus – und somit auch die Erinnerung daran, dass es Zeiten gab, in denen 4500 Jüdinnen und Juden in der Stadtgesellschaft integriert waren. Im Nationalsozialismus starben 2500 Essener Juden, nach dem Zweiten Weltkrieg lebten nur noch 200 in der Stadt. Heute liegt die Mitgliederzahl der Jüdischen Kultus-Gemeinde bei rund 930.
Innenstadt Essen: Rundgang zeigt Spuren jüdischen Lebens
Wo finden sich Spuren des jüdischen Lebens in Essens Innenstadt? Das weiß Lisa Glöckner, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Alten Synagoge Essen; und zeigte sie während eines Rundgangs am vergangenen Sonntag auf. Die 32-Jährige bringt die Schicksale jüdischer Familien Interessierten näher – auch anhand von Fotos aus glücklichen Tagen vor der Machtergreifung der Nazis. Dazu gehört unter anderem der Hinweis auf eine Berichterstattung des Essener Generalanzeigers, der im Jahr 1913 in Anbetracht der heutigen „Alten Synagoge“ von „Deutschlands schönster Synagoge“ schrieb.
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Spätestens mit der Pogromnacht auf den 10. November 1938 war das schöne Leben für Juden in der Stadt vorbei. Lisa Glöckner berichtet während des Rundgangs von den Menschen, die ihm Rabbinerhaus lebten: „Sie wurden in ihren Schlafanzügen ins Freie getrieben und mussten hilflos mitansehen, wie ihr Zuhause und das Gotteshaus brannten.“ Wie weit die Flammen der brennenden Synagoge schlugen, belegt ein Stück geschwärzte Ziegelmauer der benachbarten alt-katholischen Friedenskirche.
SS-Leute hatten in der Nacht den Sohn von Albert Heidt – letzter Kastellan (Synagogendiener) in Essen vor der Shoah – gezwungen, die Synagoge zu öffnen, dann geplündert und alles in Brand gesteckt. Mehreren Mitgliedern der Familie Heidt gelang die Ausreise nach Kolumbien. Albert Heidt aber wollte nicht weichen und seine Tochter Meta ihren Vater nicht allein zurücklassen. Beide wurden 1942 in Vernichtungslagern ermordet, Meta in Sobibor und Albert in Treblinka.
Lehrer Moses Blumenfeld wirkte in der jüdischen Volksschule
Eine weitere Spur jüdischen Lebens findet sich an der Gerswidastraße. Heutzutage findet sich dort ein höchst unansehnlicher Parkplatz. Die hier 1870 eingeweihte, im maurisch-orientalischen Stil erbaute Synagoge wurde 1937 abgerissen. Sie war damals notwendig geworden, weil die Essener Gemeinde auf 600 Mitglieder angewachsen war.
Nebenan befand sich die jüdische Volksschule. Dort wirkte Lehrer Moses Blumenfeld, seit 1841 auch Prediger der jüdischen Gemeinde. Während des Rundgangs erzählt Lisa Glöckner von einem charismatischen Menschen, dem in Essen eine Straße gewidmet ist: die Blumenfeldstraße. Er starb 1902, drei seiner Töchter wurden 1942 im KZ Theresienstadt ermordet.
Am Gänsemarkt 18 wohnte ab 1927 die Familie Zytnicki. Vater David stammte aus Warschau. Die Familie wurde im Oktober 1938 verhaftet und an die polnische Grenze deportiert. Nachdem 1940 dort das Ghetto errichtet wurde, tauchte die Familie in Warschau auf der „arischen“ Seite unter. Später wurden Ehefrau Helena und ihre Töchter als „Volksdeutsche“ evakuiert und David blieb zurück. Sein letztes Lebenszeichen war eine Postkarte Anfang 1945.
Erneuter Ortswechsel in der Innenstadt: Das jüdische Kaufhaus Adolf Grundmann gegenüber der Marktkirche rühmte sich, das „größte Spezialgeschäft in Deutschland für Damen- und Pelzmoden” zu sein. Tradition der Firma war es, jedes Jahr bedürftige Kommunionkinder einzukleiden. Als die Grundmanns unter Druck ihr Geschäft verkaufen mussten, feierte eine Zeitungsannonce geradezu triumphierend: „Essen hat wieder sein leistungsfähiges Fachgeschäft. Die neuen arischen Inhaber sind: Boecker.“
Kettwiger Straße hieß im NS Adolf-Hitler-Straße
An der Kettwiger Straße, die im Nationalsozialismus Adolf-Hitler-Straße hieß, stand das damals größte deutsche Textilkaufhaus mit 600 Mitarbeitern. Inhaber Gustav Blum wurde in „Schutzhaft“ genommen und gezwungen, alle Firmen-Kfz für symbolische hundert Mark an die Nationalsozialisten zu verkaufen. Lisa Glöckner berichtet während des Rundgangs „Auf jüdischen Spuren durch die Innenstadt“: „Das nahm ihn so mit, dass er einen Herzinfarkt bekam und bald darauf verstarb.“ Blums Söhne mussten im Rahmen der Arisierung 1938 das Gebäude weit unter Wert an „Loosen & Co“ verkaufen.
Der Hirschlandplatz beim Grillo-Theater weist auf eine jüdische Familie hin, die die nahe gelegene „Simon Hirschland Bank“ gründete und betrieb. Die Hirschlands mussten 1938 unter Zwang ebenfalls verkaufen. 40 Jahre dauerte es, bis der den Anschluss Österreichs feiernde „Wiener Platz“ in Hirschlandplatz umbenannt wurde, erinnert Lisa Glöckner.
>>> INFO: Weitere Rundgänge ab Frühjahr 2024 geplant
- Da das Interesse an der Suche nach Spuren jüdischen Lebens in der Innenstadt in diesem Jahr sehr groß war, sollen die Rundgänge im nächsten Frühjahr eine Neuauflage erleben. Derweil kann die Dauerausstellung der Alten Synagoge Essen dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr erkundet werden.
- Weitere Informationen auf: https://alte-synagoge.essen.de
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