Essen. Rauschende Klimaanlagen, viel Müll und stille Sonntage: Sabine Bendisch ist seit 2015 Bewohnerin der Innenstadt, dies jedoch nicht mehr lange.
Die Freundinnen fragten ernsthaft, ob denn alles in Ordnung mit ihr sei, als Sabine Bendisch ihnen im Jahr 2015 eröffnete, sie werde in die Innenstadt ziehen. In der Straße mit dem idyllisch klingenden Namen Gänsemarkt hatte die 67-jährige Bürokauffrau eine Wohnung gefunden, „groß und dabei sehr günstig“, wie sie sagt. 107 Quadratmeter inklusive Balkon für 750 Euro warm – für Essener Verhältnisse ist das zweifellos ein Argument. „Ich habe mir gedacht, ich probiere das einfach mal aus“, sagt die resolute Frau.
Die spontane Reaktion der Freundinnen darf als typisch gelten und sagt mehr aus über das in Jahrzehnten verfestigte Image des Essener Stadtkerns als es viele gelehrte Analysen könnten. Denn die Innenstadt ist eigentlich nicht zum Wohnen gedacht, so wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg und der fast flächendeckenden Zerstörung ganz bewusst herbeigeplant. Die City, wie man auch gern Neudeutsch sagte, sollte dem gehobenen Konsum dienen, der Kultur und dem Amüsement. Wohnen sollten die Essener woanders.
Ab den Nachkriegsjahren entvölkerte sich die Innenstadt immer mehr
Die stadtplanerische Nachkriegs-Mode der Funktionsteilung wollte das Leben einer Stadt in Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeitbeschäftigungen möglichst sauber unterteilen, als verbindendes Element sollten die großen Verkehrsschneisen dienen. Wohl in keiner Stadt im Ruhrgebiet wurde das mit einer derartigen Konsequenz umgesetzt wie in Essen.
So verwundert es nicht, dass die Innenstadt sich gemessen an der Vorkriegszeit immer stärker entvölkerte, auch weil die Hauseigentümer es nicht mehr nötig hatten, die oberen Geschosse fürs Wohnen vorzuhalten und entsprechend zu pflegen. Dank der lukrativen Ladenlokale in den Erdgeschossen wurde mancher auch so reich. Mit 4261 Bewohnern am Stichtag 31. Dezember 2020, darunter 2645 Doppelstaatlern und Nicht-Deutschen, ist der Stadtkern einer der kleinsten Essener Stadtteile.
Das Müllproblem bleibt groß, auch wenn die EBE sich Mühe gibt
Es blieben wenige Menschen, die die Nähe zu ihren Arbeitsplätzen im Stadtkern schätzten – und viele sozial Schwache. Entsprechend lieb- und architektonisch einfallslos wirken vielfach bis heute die verbliebenen Wohnhäuser und Blocks, die teilweise vor allem in der Nordcity darauf zu warten scheinen, endlich abgerissen zu werden.
Für Sabine Bendisch äußert sich diese Lieblosigkeit vor allem im Müllproblem. „Als ich 2015 hier einzog, war es noch erträglich“, sagt sie. Doch mit dem Rückgang der inhabergeführten Geschäfte, dem Einzug von Billig-Gastronomen wurde es schlimmer. „Es stinkt sehr oft“, sagt sie. Mancher Gastronom wälze das Thema Entsorgung gerne auf die Allgemeinheit ab, wobei neben Verpackungen auch schon mal Essensreste auf der Straße landeten.
Generell fänden sich in der Innenstadt immer mehr Bewohner ein, die aus ihren Herkunftsländern ein anderes Verständnis von Sauberkeit im öffentlichen Raum mitbrächten. So jedenfalls hat Sabine Bendisch es beobachtet. „Die EBE macht einiges, das erkennen wir Bewohner der Innenstadt durchaus an.“ Aber es sei am Ende eben doch zu wenig. Um hartnäckigen Müllsündern, vor allem unter Imbiss-Besitzern ein wenig Angst zu machen, habe sie sich angewöhnt, diese bei frischer Tat zu fixieren und „Polizei“ zu rufen. Manchmal wirke das.
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Wie gewöhnungsbedürftig das Wohnen in einem Viertel ist, in dem gewerbliche Nutzungen den Ton angeben, kann Sabine Bendisch auf ihrem Balkon hören. Denn dort beginnt an Werktagen ab sieben Uhr morgens das durchdringende Brummen einer großen Klimaanlage, das selbst bei geschlossenem Fenster deutlich zu hören ist. Aber, und auch das soll nicht unerwähnt bleiben: „Die Ruhe in der Innenstadt an Sonn- und Feiertagen ist himmlisch.“ Dieses Lob gefällt vielleicht nicht unbedingt denen, die die Zukunft der Innenstadt in mehr Remmidemmi und Eventkultur sehen, aber für die Bewohner ist es offenbar ein Faktor.
Das Gefühl der Angst umtreibt Sabine Bendisch weniger, dafür aber viele, die sie auf ihren Wegen trifft
Ein Gefühl der Angst, das viele zumal in der nächtlichen Innenstadt umtreibt, spielt für Sabine Bendisch hingegen keine große Rolle, wenngleich sie einige Male massiv werden musste, um unflätige Bemerkungen von Männergruppen abzuwehren. Das subjektive Unwohlsein, kann sie daher durchaus verstehen. „Ich treffe abends Menschen in der Innenstadt, die wirklich Angst haben“, sagt sie. Und: „Meine Freundinnen haben mehr Angst um mich als ich.“
Hat das Allbau-Neubaugebiet rund um die Kreuzeskirche irgendetwas Entscheidendes bewirkt? Sabine Bendisch ist da eher skeptisch. „Ich frage mich immer, wer da wohnt, denn wahrnehmbar sind diese Menschen für mich ehrlich gesagt nicht.“ Und das Positive? „Der Dombezirk mit dem Lichtburg-Gebäude und dem Restaurant Rosemarie ist für mich das Highlight der Innenstadt“, sagt sie. Und dass man gut einkaufen kann, stimme zwar, aber der alltägliche Bedarf lasse sich auch nicht leichter erledigen als in vielen Stadtteilen. Der Wegzug des Bio-Supermarkts an der Marktkirche etwa, habe für sie eine echte Lücke gerissen.
Alles in allem reicht es nicht, der Innenstadt treu zu bleiben, zumal vor drei Wochen in ihrem Haus eingebrochen wurde. Sabine Bendisch will sich daher umorientieren, ein neues Zuhause finden, und das so schnell wie möglich. Das Kapitel Innenstadt ist für sie nach sechs Jahren schon fast abgeschlossen.