Karsten Dahlem wurde für „Das Fest“ am Schauspiel Essen gefeiert. Jetzt hat „Die Geschichte einer Familie“ mit Anna Maria Mühe Filmpremiere.

Ob vom Zündstoff der Religionen oder einem Missbrauchsskandal getroffen, Regisseur Karsten Dahlem betrachtet die Probleme dieser Welt vom kleinsten menschlichen Gefüge aus wie durch ein Brennglas. Zuletzt wurde er für „Nathan der Weise“ und „Das Fest“ am Schauspiel Essen gefeiert, wo er zwölf Jahre inszeniert hat. Nun feiert sein mit dem Hofer Goldpreis bedachter Debütfilm „Die Geschichte einer Familie“ am Mittwoch NRW-Premiere in der Lichtburg. Für einen Regisseur, dessen Karriere mit einem Schauspielstudium an der Folkwang Universität begann, eine große Sache – wie der Gewinn von Anna Maria Mühe, der zwei Tage nach dem glanzvollen Ereignis in Essen der Bayerische Filmpreis als Beste Hauptdarstellerin verliehen wird.

Anna Maria Mühe dreht derzeit eine Komödie für Netflix

Anna Maria Mühe arbeitet seit Anfang des Jahres pausenlos. Unlängst gab sie ihr Bühnendebüt mit „Stolz und Vorurteil oder so“, gerade dreht sie eine Netflix-Komödie vor der langersehnten Sommerpause in Berlin und der nächsten Premiere Ende August mit der Romanverfilmung von „Sophia, der Tod und ich“. Die Schauspielerin, die mit 15 erstmals vor der Kamera stand und in der Krimiserie „Solo für Weiss“ ebenso glaubhaft wirkt wie als Beate Zschäpe in den Fernsehfilmen „Die Täter“, „Die Ermittler“, war schnell überzeugt von Karsten Dahlems Script.

„Es gibt Perlen beim Drehbuchlesen. ,Die Geschichte einer Familie’ gehört dazu. Das liegt an Chrissi, die für mich interessant ist, weil sie so ambivalent ist. Sie ist eine starke Frau, die sich trotzdem nichts zutraut und gefangen ist in ihrem Schmerz und ihrem stummen, lauten Vorwurf gegen sich“, beschreibt Anna Maria Mühe ihre Figur, mit der sie in Beziehung zu deren Vater eine extreme Entwicklung durchmacht. „Das ist für einen Schauspieler eine tolle Herausforderung.“

Erzählt wird von einer Familie, die nach dem Unfalltod des Sohnes zerrissen wird. Die Mutter geht nach Afrika, der Vater gibt sich dem Alkohol hin, die Tochter beweist sich jahrelang als Stuntfahrerin im Ausland. Als sie nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt, muss sie ins Elternhaus und damit in ihr Heimatdorf zurückkehren und sich der Vergangenheit stellen.

Nach einem Autounfall sind die glücklichen Tage für Chrissi von einer Sekunde auf die andere vorbei: Anna Maria Mühe (r.) in „Die Geschichte einer Familie“.
Nach einem Autounfall sind die glücklichen Tage für Chrissi von einer Sekunde auf die andere vorbei: Anna Maria Mühe (r.) in „Die Geschichte einer Familie“. ©  VIAFILM GmbH & Co. KG | VIAFILM GmbH & Co. KG

Schon beim Schreiben des Drehbuches hat Karsten Dahlem Anna Maria Mühe vor sich gesehen. „Ich kannte sie von Film und Fernsehen und von der Straße, weil wir nicht weit voneinander entfernt wohnen. Aber nicht persönlich“, erzählt Karsten Dahlem. „Sie ist eine großartige Schauspielerin. Dieses Package muss man erstmal stemmen - einen Menschen zu spielen, der ein Trauma erlebt durch den Tod des Bruders, das gar nicht verarbeiten kann und in dieses Trauma zurückkehrt. Und das in zwei Zeitebenen zu spielen, das muss man erstmal hinkriegen“, meint der Regisseur und nennt sie wie auch Michael Wittenborn, der den Vater spielt, ein Geschenk für seinen Film.

Intensive Vorbereitungszeit für „Die Geschichte einer Familie“

So intensiv wie ihr Spiel war ihre Vorbereitungszeit. Seit 20 Jahren bereitet sie alle Rollen mit ihrer Coaching-Frau vor. „Ich hatte auch das Glück, ein paar Wochen mit zwei Physiotherapeuten zusammenarbeiten zu können und hatte einen Rollstuhl zu Hause, um das zu meinem zu machen. Ich habe mit Menschen gesprochen, die im Rollstuhl sitzen nach einem Unfall oder von Geburt an behindert sind. Da gibt es große Unterschiede. Wenn man so eine Figur spielt, ist mir Authentizität wichtig“, erklärt die Schauspielerin. Derart akribisch präpariert, weiß sie genau, wie sie sich von der Couch transferiert und dass Druckstellen zum Alltag einer Rollstuhlfahrerin oder Rollstuhlfahrers dazugehören.

Regisseur Karsten Dahlem bei den Dreharbeiten zu „Die Geschichte einer Familie“:
Regisseur Karsten Dahlem bei den Dreharbeiten zu „Die Geschichte einer Familie“: © Robin Kater

„Crash“ sollte der Film ursprünglich heißen. Wenn der Titel nicht schon vergeben gewesen wäre, er hätte genau gepasst. Denn er macht nicht nur die zerstörerische Wucht eines Autounfalls nachvollziehbar, sondern auch das Aufeinanderprallen von Menschen und ihren Emotionen, von Schweigen und Streit, von Wahrheit und Lüge, von Bildern aus glücklichen früheren Tagen und dem unglücklichen Jetzt. Er schärft das Bewusstsein, dass alles von einer Sekunde auf die andere vorbei sein kann. Der Titel „Die Geschichte einer Familie“ ist dennoch nicht zu unterschätzen. Seine unspektakuläre Art birgt großes Identifikationspotenzial.

Schauspiel-Intendant Christian Tombeil moderiert Premiere

Tatsächlich ist sie eine Geschichte aus dem Leben von Karsten Dahlem, der in einem Dorf im Westerwald aufwuchs. „Ich habe mit 18 meinen besten Freund bei einem Autounfall verloren. Das ist nicht seine Geschichte. Es sind Versatzstücke davon und von anderen Geschichten, die auf den Dörfern stattgefunden haben“, erzählt er.

Dieses Ereignis hat ihn über viele Jahre der Entwicklung als Theaterregisseur und Drehbuchautor begleitet und wurde zur Idee für sein Filmdebüt: der Unfalltod eines Kindes und die Frage, was mit der Familie passiert. „Familie ist immer das Thema bei mir. Für mich ist es der Kessel, der spannend ist. Das kann schön sein und ganz traurig. Da gibt es Liebe und Hass, Geburt und Tod. Das bewegt mich einfach sehr.“

Und es bewegt die Zuschauenden. Bei Voraufführungen hat Karsten Dahlem das erfahren. Bedankt haben sie sich bei ihm, dass sie ihr Schicksal teilen konnten und weil das schwere Drama trotzdem Hoffnung macht. Einer sagte ihm: „Ich habe zwölf Jahre nicht mit meinem Vater geredet. Ich rufe ihn jetzt an.“ Neben solchen Reaktionen wünscht sich der 48-Jährige für die Premiere in der Lichtburg, dass viele Theaterzuschauer und Wegbegleiter kommen.

Der scheidende Schauspiel-Intendant Christian Tombeil wird dabei sein und den Abend moderieren. „Es war eine gute Zeit in Essen“, sagt Dahlem und dass er demnächst mit zwei Komödien unterwegs ist, bei denen er Anna Maria Mühe und Michael Wittenborn gerne mitnehmen möchte. „Es sind wieder absolute Familiengeschichten.“

Die Kino-Premiere in der Lichtburg

Am Mittwoch, 14. Juni, 20 Uhr, hat „Die Geschichte einer Familie“ NRW-Premiere in der Lichtburg. Mit dabei sind die Hauptdarsteller Anna Maria Mühe und Michael Wittenborn sowie Regisseur Karsten Dahlem und Musiker und Komponist Hajo Wiesemann. Am 15. Juni startet der Film in den Kinos.

Kartenreservierung: 0201/ 23 10 23 oder online auf www.filmspiegel-essen.de

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