Essen. Ringparabel mit E-Gitarre: Regisseur Karsten Dahlem macht aus dem Schul-Pflichtstoff in Essen einen rasanten Abend ohne Aktualisierungszwang.

Nathan die Weise. Schon die weibliche Besetzung ist eine Setzung in Karsten Dahlems Inszenierung von Lessings berühmter Toleranzparabel. Doch Aufklärer Lessing wird in der Casa des Schauspiel Essen nicht mit Gendersternchen auf Aktualität getrimmt. Nathan bleibt der weise Kaufmann, das Vorbild toleranter Humanität, der besorgte Vater, der eines Tages von der Reise kommt und vom Beinahe-Tod seiner Tochter Recha in den Flammen des eigenen Hauses erfährt.

„Nathan der Weise“ wird in Essen von einer Frau gespielt

Dass Ines Krug ihn spielt wie Sven Seeburg sich zeitweise mit rotem Lippenstift in die Sultan-Schwester Sittah verwandelt und Sabine Osthoff von der christlichen Freundin Daja zum Patriarchen von Jerusalem mutiert, ist keine Lektion in Diversität. Es lässt den Geschlechter-Kampf einfach nur so überholt erscheinen wie den Wettstreit der drei großen monotheistischen Weltreligionen und zeigt, dass jede Zuschreibung doch etwas Unberechenbares hat: Das Judenmädchen Recha ist doch in Wahrheit eine Christin, als Findelkind zum Juden Nathan gekommen. Ihr Retter und heißblütiger Verehrer, der junge Tempelherr, entpuppt sich unerwartet als Blutsverwandter. Und Gotthold Ephraim Lessings dramatisches Gedicht taugt auch fast 240 Jahre nach seiner Uraufführung immer noch dazu, über praktizierte Humanität und vorurteilsfreie Nächstenliebe nachzudenken.

Als Ideendrama hat das Stück schon manche Deutung erlebt. Karsten Dahlem stülpt dem Stück keinen aktuellen Konflikt über, verkneift sich auch den expliziten Hinweis auf jüngste antisemitische Übergriffe. Krieg ist immer und der Krieg der Religionen ist beileibe kein neues Phänomen. Stattdessen wird das Debattendrama erst einmal in einen Stuhlkreis verlegt. Lessing – mit Abstand betrachtet und in den Analyse-Jargon überführt. „Wie geht es dir dabei? Sogar Robbie Williams „Angel“-Song wird, begleitet von Hajo Wiesemann, gemeinsam angestimmt, bevor plötzlich jemand „Allahu akbar“ schreit.

Bald heulen die Sirenen und die imaginären Wände wackeln

Rasch explodiert die Stimmung, heulen die Sirenen, wackeln die imaginären Wände. Claudia Kalinkis karges, abstraktes Bühnenbild braucht kaum mehr als einen Tisch, ein paar Stühle und eine ins Casa-Rund krachende Plastikplane, um zu zeigen wie schnell der Himmel einstürzen kann und jede vermeintliche Sicherheit, an das „Richtige“ zu glauben.

Die „Ringparabel“, mit der Lessing den Absolutheitsanspruch jeder Religion gleichnishaft ad absurdum führt, ist das Zentrum der Geschichte und ein Schlüsseltext der Aufklärung. Sie erzählt vom Herrscher im Osten, seinen drei Söhnen und einem Ring, der Führungs-Anspruch versinnbildlichen soll. Als der wohlmeinende Vater zwei Duplikate für seine drei gleich geliebten Söhne anfertigen lässt, ist der Streit da. Wer besitzt den echten Ring und damit wahre Autorität? Ein Richter muss schlichten: Statt über äußere Zeichen zu zanken, betone doch jeder seinen Anspruch lieber mit Güte, Rücksicht und vorurteilsfreie Liebe.

In Dahlems herzpochender Inszenierung wird sie auch umgesetzt, wenn Luzie Juckenburg als verknallte Recha nach ihrem Retter, dem Tempelherrn verlangt. Sabine Osthoff befeuert die Lovestory als resolute Strippenzieherin Daja, die die Kerle in der Umgebung auch mal mit einem Tritt in den Hintern auf Kurs bringt. Ines Krugs Nathan ist ein reflektierter und besonnener Denker, kein Besserwisser in Sachen Toleranz. Thomas Büchel befreit den Sultan Saladin kultiviert vom finsteren Muselmanen-Auftritt, auch wenn er schon mal „Der Jude muss brennen“ ruft. Und Alexey Ekimov ist ein aufbrausender Tempelherr, der aus der wortgetreuen Vorlage auch mal in den Jungspund-Duktus umschaltet: „Komm, wir mieten uns einen SUV und fahren durch die Wüste.“

Lessings Toleranzparabel bekommt in Essen einen Extraschuss jugendlicher Dynamik

Lessing-Puristen dürfte da bisweilen ein Schreck in die Glieder fahren. Allen Pflichtlektüre-geplagten Schülern dürfte der Extraschuss jugendlicher Dynamik mit wummerndem E-Bass und live gesungenen Songs hochwillkommen sein. Wie in seinem gefeierten „Werther“ gelingt es Dahlem auch mit „Nathan der Weise“ für wildes Herzklopfen und einen Überschuss jugendlicher Gefühle zu sorgen. Auch dieses Mal freilich ohne Happy End.

Denn wenn die große neue Glaubensfamilie an diesem Abend im Stuhlkreis wieder näher zusammenrückt, ist das Drama doch alles andere als vorbei. Draußen tobt der Krieg der Waffen und Herzen weiter. Das Recht auf ein Leben in Frieden, Freiheit und Asyl, es bleibt ein in großen Lettern an die Wand geschriebener Anspruch, und Lessings humanistischer Appell weit mehr als trockenes Interpretationsmaterial für die gymnasiale Oberstufe.

Weitere Termine: 29. Dezember, 11. 18., 20. und 21. Januar. Karten unter Tel. 0201-8122-200 und online www.theater-essen.de