Essen. Immer mehr und oft unnötige Einsätze führen dazu, dass die Essener Feuerwehr nicht mehr genug Kapazität für echte Notfälle hat. Das macht Sorge.
Ordnungsdezernent Christian Kromberg kann sich noch gut erinnern, als ihm der damalige Chef der Essener Feuerwehr vor einigen Jahren berichtete, dass man nun die Messlatte von 100.000 Notfall-Einsätzen pro Jahr gerissen habe. „Er sagte halb scherzhaft, halb ernst, damit sind wir nun eine richtige Großstadt.“ Zum Scherzen ist bei diesem Thema niemanden mehr zumute, denn die jährliche Zuwachsrate lag zuletzt bei rund 15 Prozent, 2021 waren es schon 176.000 Einsätze, und mittlerweile geht man in Riesenschritten auf die 200.000 zu. Nicht nur die Stadt Essen stößt bei solchen Wachstumsraten an Grenzen, fast jede Großstadt in Deutschland hat ähnliche Probleme.
90 Prozent aller Einsätze der Essener Feuerwehr haben medizinischen Anlass
Nur jeder zehnte dieser Einsätze hat etwas mit einem Brand oder technischer Gefahrenbekämpfung zu tun, weshalb der Name Feuerwehr fast schon irreführend ist. Wenn aus einer der elf Essener Rettungswachen ein Fahrzeug mit Sirene startet, dann handelt es sich in 90 Prozent der Einsätze um einen medizinischen Anlass – und genau in diesem Segment entsteht auch das enorme Wachstum. Ein Wachstum, das mit der Anzahl echter Notfälle allerdings nicht zu erklären ist, denn diese sind in etwa gleichgeblieben.
Anders gesagt: Der Notdienst wird häufig wegen Bagatellen gerufen, die sich aber oft erst vor Ort als solche herausstellen. Und manchmal kann es dann passieren, dass für andere, viel eindeutigere Notfälle das Personal fehlt. Als vor einigen Wochen auf der Ruhrallee ein schwerer Unfall geschah, musste der Notarzt per Hubschrauber aus einer anderen Stadt eingeflogen werden, weil in Essen alle Einsatzkräfte unterwegs waren. Acht Minuten sollen im Schnitt in Essen vergehen von der Alarmierung bis zum Eintreffen eines Rettungsmittels beim Patienten oder Unfallopfer. Kromberg rechnet damit, dass in den Analysen zum gerade entstehende Rettungsdienstbedarfsplan herauskommt, dass diese Vorgabe schon jetzt überschritten wird.
Disponenten müssen entscheiden, ob hinter einem Anruf wirklich ein Notfall steckt
Doch was ist eigentlich ein echter Notfall und was ist eine Bagatelle? Und wie unterscheidet man das eine vom anderen? Leisten müssen dies so genannte Disponenten, die die Notrufe entgegennehmen. Sie entscheiden anhand eines festgelegten Fragenkatalogs, ob für einen Einsatz ein Rettungssanitäter genügt, ob der breiter ausgebildete Notfallsanitäter anrückt oder gar ein Notarzt mitfährt – oder ob vielleicht sogar die ganze Fahrt überflüssig und das Problem im Wege der Selbsthilfe zu lösen ist.
„Die Mitarbeiter tragen eine große Verantwortung“, sagt Jörg Wackerhahn, stellvertretender Leiter der Feuerwehr Essen. Was auch bedeuten dürfte: Im Zweifel wird das Schlimmere angenommen, weil es fatal wäre, einen Patienten abzuweisen, der sich dann doch in einer potenziell lebensbedrohlichen Situation befand. Das führt aber immer öfter dazu, dass mit dem ganz großen Besteck ausgerückt wird, und am Ende waren es dann manchmal doch nur Verdauungsbeschwerden oder ein verstauchter Finger. Oder jemand hat gemeint, es wäre sein gutes Recht, mit einer Art Notfall-Taxidienst ins Krankenhaus gefahren zu werden.
Die Gründe für solche Fehleinschätzungen sind laut Ordnungsdezernent Kromberg vielfältig. „Viele Menschen verstehen unser Gesundheitssystem nicht und nutzen dann das für sie Naheliegende.“ Das gelte etwa für Einwanderer, die die hiesige Komplexität aus ihren Heimatländern nicht kennen.
Ältere Menschen riefen früher erst den Hausarzt – heute wählen sie vielfach die 112
Das gelte zunehmend aber generell auch für ältere Menschen, die früher Scheu gehabt hätten, per Notruf gleich „so einen Aufwand“ in Gang zu setzen. Bei akuten Problemen wurde erst einmal der gute, alte Hausarzt gerufen, der auch Hausbesuche machte. Mit der Scheu ist es aber nicht mehr soweit her, und einen Hausarzt hat längst nicht mehr jeder. Und wenn es ihn gibt, kann er mangels Zeit nicht mehr ins Haus kommen.
Nicht zu unterschätzen sei auch die enorme Spezialisierung im Gesundheitswesen, so Kromberg. Das hat zur Folge, dass täglich viele Patienten von Krankenhaus A zu Krankenhaus B transportiert werden müssen, weil eine bestimmte Untersuchung nur in B möglich ist. Die Strukturprobleme des Gesundheitswesens – auch sie werden oft auf Kosten des Rettungsdienstes „gelöst“.
Und ja, dann gebe es natürlich auch „die Dreisten“, wie Kromberg sie nennt. Die, die genau wissen, dass bei ihnen eigentlich nichts Lebensbedrohliches vorliegt, aber die sich eine kostenlose und schnelle Fahrt zum Krankenhaus organisieren, wo sie vielleicht auch noch hoffen, schneller behandelt zu werden, wenn sie mit Tatütata anrücken. Das stimme allerdings nicht, in der Notaufnahme gehe es strikt nach Dringlichkeit. Ein Krankenwagen allein beeindrucke da niemanden, betont Kromberg.
Die Leidtragenden der Überlastung sind die Mitarbeiter
Die Leidtragenden der Überlastung sind die Notfall- und Rettungssanitäter, die neben vielem anderen auch höchste Stressresistenz benötigen, um sich unfallfrei mit Blaulicht durch den dichten Stadtverkehr zu kämpfen. Ein hohes Berufsethos, der Wille, Mitmenschen in Not zu helfen, hält die Leute bei der Stange. „Die Jungen verpacken das besser“, sagt Jörg Wackerhahn. Die Älteren ab 50 würden so weit es geht aus dem Dienst herausgenommen, obwohl es selbstverständlich auch unter ihnen „Vollblut-Notfallsanitäter“ gebe. Wer mit 60 noch dabei ist, ist eine große Ausnahme.
Da es die Krankenkassen sind, die den immensen Aufwand bezahlen, könnte man sagen: Dann baut die Stadt halt weiter ihre Notfall-Infrastruktur aus, kauft neue Rettungswagen, stellt weitere Sanitäter ein. Christian Kromberg deutet an, dass es genauso wahrscheinlich auch kommen wird, wenngleich er die Kassen dafür überzeugen muss. Manche Wachen müssten umziehen, näher an die Wohnquartiere der Essener, andere würden völlig neu gegründet Andererseits stößt man ganz praktisch an Grenzen. „Für jeden Rettungswagen, der in zwei Schichten unterwegs ist, benötigen wir elf Mitarbeiter“, rechnet Kromberg vor. Die aber sind schwer zu bekommen.
Die Notaufnahmen der Krankenhäuser sind immer öfter das Nadelöhr
Und die Notaufnahmen der Krankenhäuser wachsen auch nicht mit, sie sind immer öfter das entscheidende Nadelöhr. „Mit leicht steigender Tendenz“, wie Feuerwehr-Vize Wackerhahn formuliert, verweigern sie die Aufnahme selbst von Patienten, deren akute Notlage nicht in Frage steht – einfach weil sie am Limit sind. Die Rettungswagenbesatzung muss dann ein freies Krankenbett suchen, während die Behandlung im Wagen stattfindet. Zwar beeilt sich Essens Gesundheitsdezernent Peter Renzel, die „hervorragende Zusammenarbeit mit den Essener Hospitälern“ zu loben, Patienten berichten allerdings von enorm langen Wartezeiten. Ganz zusammenpassen will das alles nicht.
Wie lässt sich nun das Problem angehen, immer mit dem obersten Ziel, für Notfälle auch künftig genügend Ressourcen zu haben? Für Peter Renzel liegt ein Schlüssel bei den von der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) betriebenen Notdienstpraxen, von denen es derzeit vier in Essen gibt: im Philippusstift in Borbeck und in den Alfried-Krupp-Krankenhausstandorten Rüttenscheid und Steele sowie einen Kindernotdienst im Elisabeth-Krankenhaus. Die KVNO spricht von einem „Erfolgsmodell, das unbedingt fortgesetzt und weiter ausgebaut werden sollte“. Nur: Auch dafür braucht es Geld.
Gesundheitsdezernent Renzel wirbt dafür, auch den ärztlichen Notdienst zu nutzen
„Wir als Stadt brauchen eine strategische Allianz“, betont Gesundheitsdezernent Renzel und wirbt dafür, den über die Rufnummer 116 117 erreichbaren ärztlichen Notdienst zu nutzen. „Es kann nicht sein, dass man schon den ganzen Tag Schmerzen hat und erst nachts mit der Feuerwehr ins Krankenhaus fährt.“ So sieht es auch eine hochrangig besetzte Regierungskommission des Bundes zur Zukunft der Krankenhäuser. Praktische Erfahrungen und Studien „deuten darauf hin, dass ein relevanter Anteil von Hilfesuchenden auch in einer Notdienstpraxis im Krankenhaus behandelt werden könnte“, heißt es.
Ein Feld, auf dem Deutschland weit zurückliegt, ist die Tele-Medizin, mit der viele Notfallpatienten professionell, aber kostengünstig und ressourcenschonend behandelt werden können. Die KV Nordrhein berichtet von ermutigenden Ergebnissen eines jüngst erfolgten Modellversuchs für die kinderärztliche Notdienstversorgung. „Insgesamt wurden knapp 2500 Videosprechstunden durchgeführt, und fast der Hälfte der anrufenden Eltern konnte bereits im Rahmen der Online-Beratung abschließend geholfen werden“, heißt es. „Hier sehen wir großes Potenzial, auf die Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten schnell und direkt eingehen zu können.“
Und wenn gar nichts hilft, schreckt Peter Renzel auch vor Tabus nicht zurück. „Wir müssen darüber nachdenken, ob nicht ein Eigenanteil zu zahlen ist, wenn jemand die 112 wählt.“ Auch zur Abschreckung. „Mit Herzinfarkt sollte man nicht im Taxi zur Klinik fahren, mit einem gebrochenen Finger ist das hingegen zumutbar.“