Essen-Westviertel. Das Arbeiterviertel Essen-Segeroth stand einst für Kriminalität, Verelendung und Perspektivlosigkeit. Unterwegs mit Stadtführer Ingo Pohlmann.

Zwischen Gasanstalt und Kruppscher Gussstahlfabrik, Maschinenbau-Union und Elektrizitätswerk, Zeche Victoria Mathias und Bahntrasse der „Rheinischen“ gelegen, genoss das Segeroth-Quartier als Arbeiterviertel einst traurige Berühmtheit. Die Geschichte des Stadtteils war jetzt Thema einer Stadtführung, zu der das Paul-Gerlach-Bildungswerk der Awo Essen eingeladen hatte. Ingo Pohlmann führte rund 20 Interessierte durch das Viertel. Der Name selbst stammt unschuldig von einem flach abfallenden Gelände, das gerodet wurde. Aber Pohlmann zitiert direkt mal seine Oma: „Wo man sticht mit Messern, wo man schießt mit Schrot, da ist meine Heimat, da ist Essen-Segeroth.“

Schwere Bombenangriffe 1943 zerstörten Essener Segeroth-Viertel

Das Viertel wurde zum Synonym für die Verderbtheit einer Großstadt mit Elend, Dreck und Perspektivlosigkeit. Durch die schweren Bombenangriffe 1943 wurde das Segeroth-Viertel stark zerstört, nichts ist mehr von Industrieanlagen oder alten Wohnvierteln übrig geblieben. Allein die Prostituierten haben in der Stahlstraße ein Domizil erhalten, wo sich zuvor die Arbeiterkolonie Nordhof befand.

Durchs recht neue Wohngebiet „Grüne Mitte“, wo früher Großmarkt und Kirmesplatz lagen, geht es zum Campus der Universität Duisburg-Essen. Zunächst befand hier leicht abfallendes, aber doch sumpfiges Gelände, das der Viehwirtschaft diente. Dann wurde 1840 der erste Schacht abgeteuft für die Zeche Victoria Mathias.

Essener Bevölkerung stieg sprunghaft an

Auf einem Hinterhof der Uni weist Pohlmann auf einen unscheinbaren Deckel im Straßenpflaster. Darunter versteckt sich der 255 Meter tiefe Schacht „Mathias I“. Oben auf dem Dach erkennt man eine Protego-Haube, die das austretende Grubengas sichert.

Mit dem Aufschwung des Kohlenbergbaus und der enormen Expansion der Kruppwerke stieg die Essener Bevölkerung sprunghaft an. Man sei durch Zuwanderungen von Arbeitskräften unterschiedlichster ethnischer Gruppen, unter ihnen auch osteuropäische Juden und Roma, völlig überfordert gewesen, erzählt Pohlmann.

Die Stahlstraße in Essen aus der Luftperspektive.
Die Stahlstraße in Essen aus der Luftperspektive. © www.blossey.eu / FUNKE Foto Service | Hans Blossey

Wo 1886 im Segeroth noch 8000 Menschen gut Platz fanden, drängten sich um 1930 sage und schreibe 40.000 dicht an dicht. Die Mietskasernen, die Bauunternehmer Johann Piekenbrock oder dann auch die Krupps bauen ließen, boten Klos auf dem Treppenabsatz oder im Hof. Elektrizität oder Gasanschluss eher nicht, so Pohlmann: „Billiger Wohnraum, unterster Standard. Und doch gab es hier regelmäßiges Einkommen, Schulen und eine Krankenversicherung. Das war das Paradies. Die Leute haben sich wohlgefühlt hier.“

In den 1930er Jahren schlug es um. Die meisten Männer arbeitslos, entwurzelt, eine gefährliche Gemengelage. Viele Segerother saßen in Haft. Pohlmann grinst: „Zum Beispiel der Bruder meiner Mutter. Ein Kleinkrimineller.“ Der Stadtführer hat hier Heimspiel, denn seine aus dem Osten des Deutschen Reichs stammenden Ahnen landeten zunächst alle hier im „Wilden Norden“.

Nazis, Kommunisten und Edelweißpiraten im Essener Segeroth-Viertel

Die Urgroßväter hießen so ziemlich alle Hermann und arbeiteten sich hoch. Der 1912 geborene Opa Pohlmann und seine spätere Frau wuchsen im selben Haus an der Meißelstraße auf: „Die waren sich quasi von Geburt an versprochen.“ Opa Richard arbeitete auf Zeche Wolfsbank in der Kokerei und wurde nur knapp 50 Jahre alt: „Kein Wunder bei der Arbeit.“

Noch 1932 erhielt die KPD hier 60 Prozent der Wählerstimmen und die NSDAP gerade mal ein Sechstel. Allerdings gab es ein SA-Heim in der Gaststätte Becker und ständig Ärger. Neben Nazis und Kommunisten fanden die aufmüpfigen Edelweißpiraten ihre Nische. Als der Reichskanzler 1936 zu Besuch kam, wurde seine Leibstandarte attackiert und das Banner „Das Segeroth grüßt Adolf Hitler“ hing auch nicht lang, weiß Pohlmann. Seine Oma bekam Ärger, weil sie den Deutschen Gruß verweigerte: „Sie konnte aber nachweisen, dass sie mit ihrem Rheuma den Arm nicht hochbekam.“

Durchs recht neue Wohngebiet „Grüne Mitte“, wo früher Großmarkt und Kirmesplatz lagen, führte Ingo Pohlmann zum Campus der Universität Duisburg-Essen.
Durchs recht neue Wohngebiet „Grüne Mitte“, wo früher Großmarkt und Kirmesplatz lagen, führte Ingo Pohlmann zum Campus der Universität Duisburg-Essen. © FUNKE Foto Services | Kira Alex

Dann reichte es den Nazis. Die Stadtverwaltung begann 1937 mit der „Säuberung“ des Viertels. Die „trotz asozialer Umwelt Gesundgebliebenen“ sollten weiterhin im Segeroth leben dürfen. Andere sollten sich in „Randsiedlungen“ bewähren können. Die „nicht Besserungsfähigen und die rassisch Minderwertigen“ seien „auszumerzen“. Das zielte vor allem auf das Roma-Quartier am Schlenhof. Ab 1938 wurden die dortigen Roma „anderwärts in ein geschlossenes Lager“ gebracht. Laut Pohlmann ist davon auszugehen, dass damit die KZ-Deportationen gemeint waren. Nur wenige überlebten.

Segeroth-Friedhof: Erinnerung an Essener Grubenunglück

Nach dem Krieg lag das Viertel in Schutt und Asche. Aber immer noch 5000 Menschen lebten in den Ruinen und bald waren es wieder 20.000. Die wurden nach Angaben des Stadtführers später umgesiedelt in die neu entstandenen Siedlungen Bergmannsfeld und Hörsterfeld. Dort, wo jetzt das Hallenbad Thurmfeld steht, war einst die Gasanstalt: „Der Boden ist kontaminiert. Radieschen kannst du hier keine züchten.“ Jetzt soll ausgekoffert werden und ein Wissenschaftszentrum entstehen.

Auf dem Friedhof Segeroth wurden unter anderem die Toten der Cholera-Epidemie 1866-67 und Bergleute des Grubenunglücks auf Zeche Victoria Mathias 1921 beigesetzt. Das weitläufige Areal wurde ab den 1960er Jahren nicht mehr belegt und zur Parkanlage umgestaltet.

Im Anschluss besucht die Gruppe Essens größten jüdischen Friedhof. Er wurde 1885 geweiht und steht heute unter Denkmalschutz. Ingo Pohlmann nennt einige prominentere Namen, zentral das Grabfeld der Familie Hirschland. Viele nach 1945 errichtete Grabsteine erinnern an ermordete Juden. Angefasst und still kehren die Teilnehmer dieser Stadtteilführung heim.

Weitere Stadtteilführungen

Weitere historische Stadtteilführungen mit Ingo Pohlmann: Am 7. Mai geht es durch Frohnhausen, am 2. Juli durch Altendorf. Am 16. Juli stehen Borbeck und am 13. August das Westviertel auf dem Programm. Am 10. September führt Ingo Pohlmann durch Rüttenscheid und am 12. November gibt es die Zollverein-Tour.

Start der Rundgänge ist meist um 11 Uhr. Die Teilnahmegebühr beträgt 10 Euro pro Person, eine vorherige Anmeldung ist notwendig. Sie ist auf www.awo-essen.de unter „Politische Bildung“ oder unter 0201 1897421 oder lilia.gerlach@awo-essen.de möglich.