Essen-Nordviertel. . Nirgends sonst ist Essens Wandel so eindrucksvoll zu beobachten, wie an der Segerothstraße. Folge 9 unserer Serie „Essener Straßen“.
„Wo man sticht mit Messer, wo man schießt mit Schrot, da ist meine Heimat, Essen-Segeroth“: Der alte Vers rund um das früher berüchtigte Viertel hält sich hartnäckig im Essener Volksmund.
Dabei ist die Segerothstraße ein Paradebeispiel für Essens Wandel. Machten die Gussstahlfabrik von Krupp und die Stinnes-Zeche Victoria Mathias das Quartier früher zum Arbeiterviertel schlechthin, so ist es heute dank Universität und der neuen Grünen Mitte Essens Zukunftsstandort Nummer eins.
Segeroth hatte Ruf als „Tal der fliegenden Messer“
Wer wissen will, wie es früher zwischen Berliner Platz und Thurmfeld zuging, der wird in dem Büdchen gegenüber der Uni fündig. In dem Laden, der ein Mix aus Café, Supermarkt und Kiosk ist, kommen „Ur-Einwohner“ wie Siegfried Packmohr (72) und Peter Kleckers (53) täglich auf einen Kaffee zusammen.
Sie können sich noch gut an die Zeiten erinnern, als das Segeroth noch als „Tal der fliegenden Messer“ bekannt war. „Aber an diesem Namen war nie richtig was dran. Ich jedenfalls hatte nie Schiss hier“, sagt Packmohr, der seit 1949 im Segeroth lebt: „Ich habe mit meinen Eltern erst in einer der Baracken gewohnt, wo jetzt die Uni ist“, erinnert sich der Rentner.
Wegziehen? „Ich komm’ ja von hier“
Packmohr vermisst ebenso wie seine Nachbarn die Zeiten, in denen die Segerothstraße noch ein lebendiges Geschäftszentrum war: „Zehn Kneipen gab’s hier mal! Bäcker, Metzger, Gemüseladen, alles. Und heute? Gucken Sie sich mal um, hier ist ja nix mehr“, stimmt ihm Peter Kleckers zu.
Wegziehen würden sie trotzdem nicht: „Ich komm’ ja von hier“, sagt Kleckers.
Krupp und Stinnes siedelten sich an
Auch Ingo Pohlmann hat seine Wurzeln „in einer der spannendsten Gegenden der Stadt“, wie er sagt: Seine Großeltern stammen aus dem Segeroth. Der Hobby-Historiker ist regelmäßig als Stadtführer im Essener Westen unterwegs. „Einen so rasanten Wandel gibt’s sonst nirgends in Essen zu beobachten“, sagt der 47-Jährige über die Straße, die hunderte Jahre lang als städtische Viehwiese genutzt wurde.
Erst im 19. Jahrhundert siedelten sich parallel zum Wachstum von Krupp und Stinnes immer mehr Menschen in dem innenstadtnahen Viertel an: „Das war hier keineswegs ein Arme-Leute-Viertel. Vor dem Ersten Weltkrieg war das Segeroth beliebt“, weiß Pohlmann.
Ruf als kriminelle Keimzelle erst in den 20er-Jahren gefestigt
Die dicke Luft war den Menschen offenbar egal: Bis zu 15 Kilo Staub seien damals pro Quadratmeter gemessen worden – heute sind es 200 Gramm.
Ihren Ruf als kriminelle Keimzelle habe die Straße erst in den 20er-Jahren gefestigt, erklärt Pohlmann: „Viele Wirtschaftsflüchtlinge aus Ostpreußen kamen auf der Suche nach Arbeit hierher und wurden enttäuscht: Die Folgen waren Frustration, Kriminalität und die Organisation von Schlägertrupps.“ Dennoch blieb das Segeroth ein tiefrot gefärbtes Arbeiterviertel. „Die Kommunistische Partei erreichte hier auch in den 30er-Jahren Stimmenanteile von 65 Prozent. Das Segeroth wurde daher von den Nazis als kommunistisches Bollwerk hochstilisiert und später mit viel Pomp eingenommen: „Hitler selbst fuhr hier entlang und ließ sich feiern“, weiß Ingo Pohlmann.
Die Segerothstraße
Der Zweite Weltkrieg zerstörte die Häuser rund um die Segerothstraße beinahe komplett: „Drei Häuser sind stehen geblieben“, weiß Pohlmann. Bis der Umbau zum Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort kam, verging einige Zeit: 1972 nahm die Uni ihre Arbeit auf, dafür war der Güterbahnhof Segeroth gewichen.
Im Jahr 2000 folgte ein weiterer Meilenstein: die Entwicklungsgesellschaft Universitätsviertel Essen wurde gegründet, um die Bahnhofsbrache zu entwickeln. Mit dem Neubau der Zentrale der Funke-Mediengruppe, zu der auch diese Zeitung gehört, wird dieses Kapitel im nächsten Jahr abgeschlossen.
Rotlicht als Konstante
Eines hat sich über all die ereignisreichen Jahre im Segeroth nie geändert: Das älteste Gewerbe der Welt hat hier lange Tradition. Schon in der Weimarer Zeit waren mehr als 200 Prostituierte an der Stahlstraße gemeldet. Eine Parallel-Gesellschaft, die laut Alt-Segeroth-Bewohner Siegfried Packmohr „hier schon immer dazu gehörte.“