Essen. „Einzigartig“ nennt das Essener Stadtarchiv diese Schenkung. Die Sammlung Wolfgang D. Berude dokumentiert die Geschichte der Homosexuellen.
Wohl kaum jemand ist in der Geschichte der schwul-lesbischen Community in Essen so bewandert wie Wolfgang D. Berude. Der 70-Jährige, Initiator der Ausstellung „Come out, Essen“ und Mitglied des Arbeitskreises Schwule Geschichte, hat im Laufe von 35 Jahre eine umfangreiche Sammlung zur Geschichte homosexueller Esserinnen und Essener angelegt. Jetzt hat er diese Sammlung dem Haus der Essener Geschichte vermacht.
Eine Schenkung, über die die Leiterin des Hauses, Claudia Kauertz, ausgesprochen glücklich ist. Als eigener Archivbestand – gut geordnet und akkurat verpackt – werde das Material als „Sammlung Wolfgang D. Berude“ in das Stadtarchiv aufgenommen. „Künftige Generationen werden in 200 Jahren so die Möglichkeit haben, sich über die Geschichte der Homosexuellen in Essen zu informieren.“
Leiterin des Hauses der Essener Geschichte: „Diese Sammlung ist etwas besonderes“
Das Haus der Essener Geschichte lasse sich vom Anspruch leiten, im Stadtarchiv alle gesellschaftlichen Gruppen dieser Stadt abzubilden. Essen sei im Umkreis wohl die einzige Stadt, die im Stadtarchiv über eine Sammlung zur Geschichte der Homosexuellen verfüge. „Die Sammlung ist wirklich etwas besonderes“, sagt Claudia Kauertz.
Schon vor 40 Jahren hat Wolfgang D. Berude angefangen, Material zur schwul-lesbischen Szene in dieser Stadt zu archivieren. Kern seiner Sammlung sind zwölf prall gefüllte Leitz-Ordner. Sie enthalten die Recherche-Unterlagen zur aktuellen Ausstellung „Come out, Essen“, in der die Geschichte der Szene einen breiten Raum einnimmt. Hinzu kommen Veranstaltungsplakate, wie etwa das Poster der Arbeitsgemeinschaft Lesben, Schwule und Polizei von 1999, das für das Fußball-Benefizturnier in der Sportanlage Schillerwiese wirbt. Es stand unter dem Motto „Der Ball is’ bunt“.
Ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument ist die Fotoausstellung mit dem Titel „motive ‘94“. Ihr vorausgegangen war ein Fotowettbewerb zum Thema „Typisch schwul !? Klischee und Wirklichkeit“. Berude stellt dem Stadtarchiv alle Fotos dieser Ausstellung zur Verfügung. Zeitungsberichte sowie Leserbriefe aus lokalen Tageszeitungen zum Thema Homosexualität runden die Schenkung ab.
700 Gestapo-Akten erinnern an Verfolgung homosexueller Essener in der NS-Diktatur
Erst die Rückschau macht deutlich, wie sehr sich die Situation für schwule und lesbische Menschen im Laufe mehrerer Jahrzehnte verbessert hat. Auf die liberale Blütezeit in der Weimarer Republik, als das „Eldorado“ am Essener Gerlingplatz etwa zu den beliebtesten Schwulentreffs an Rhein und Ruhr der 1920er Jahre zählte, folgten Unterdrückung in der NS-Diktatur und die Stigmatisierung als „verantwortungslose Volks- und Staatsfeinde“. Um die Verfolgung homosexueller Männer durch das NS-Terrorregime allein für Essen aufzuarbeiten, hat Wolfgang Berude rund 700 Gestapo-Akten aus Landes- und Bundesarchiv akribisch ausgewertet.
Es folgte die bleierne Zeit der 1950er- und 1960er Jahre, als der berüchtigte Paragraf 175 des Strafgesetzbuches homosexuelle Männer kriminalisierte. Erst mit der sozialliberalen Koalition, in der der frühere Essener Oberbürgermeister Gustav Heinemann das Amt des Justizministers bekleidete, setzte ab 1970 allmählich eine Liberalisierung ein.
In einer Klarsichtfolie steckt ein schlichter Flyer aus dem Jahr 1988, der auf den Gay Freedom Day in der Zeche Carl aufmerksam macht. Der damals verfasste Offene Brief samt Protestresolution trägt auch die Unterschrift des früheren grünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck.
„Ich bin mit meinem Mann seit 52 befreundet, verpartnert und nun verheiratet“
Zu den Meilensteinen der hart erkämpften Liberalisierung zählt das 1999 beschlossene Handlungsprogramm der Stadt Essen unter der Überschrift „Gleichgeschlechtliche Lebensweisen - ein Beitrag zu Vielfalt“. „Essen war damals Vorreiter“, sagt Berude, der sich gut daran erinnert, dass damals „dicke Bretter“ gebohrt werden mussten. Sich als homosexuell zu outen, heute nahezu eine Selbstverständlichkeit, lieferte noch bis weit in die 1980er Jahre reichlich Stoff für Skandale. Zu den mutigen Männer jener Zeit gehörte beispielsweise der Essener Bibliothekar Michael Kleine-Möllhoff. Er war 1984 der erste Ratsherr, der sich zu seiner Homosexualität bekannt hat.
Auch der Lebensweg des Kaufmanns Wolfgang Berude symbolisiert den enormen gesellschaftlichen Wandel, den Schwule und Lesben erfahren haben. Der Chronist der Essen Schwulenszene, der in Essen aufgewachsen ist, sagt: „Ich bin mit meinem Mann seit 52 Jahren befreundet, verpartnert und nun verheiratet.“ Die Situation der Schwulen habe sich enorm verbessert.
Stadtgeschichte, so Archivleiterin Claudia Kauertz, habe viele Facetten. Sie sei nicht nur die Geschichte der Innenstadt und der Stadtteile, sondern die Geschichte aller Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen. „Die Sammlung Wolfgang D. Berude spiegelt die persönlichen Interessen und Netzwerke ihres Urhebers sehr gut wider.“