Essen. Zum Ruhr CSD 2022 in Essen kommen 10.000 Menschen aus der schwul-lesbischen Community. Viel Beifall gibt’s für Organisator Dietrich Dettmann.

Zwei Jahre Corona-Pause haben dem Ruhr CSD nicht geschadet. Mehr als 10.000 Menschen aus der schwul-lesbischen Community haben am Samstag (6. August) in der Essener Innenstadt ausgelassen gefeiert und vorher demonstriert – fast genauso viele wie zuletzt 2019. Und es gab am „Christopher Street Day“ eine Ehrung für den Mann, der gern als „Vater“ des CSD im Ruhrgebiet bezeichnet wird, sich selbst aber nur bescheiden als einen Wegbereiter dieser Veranstaltung sieht. OB Thomas Kufen zeichnete den unermüdlichen Organisator Dietrich Dettmann für besondere Verdienste mit dem „CSD Award Ruhr 2022“ aus und hielt auch die Laudatio. Vor mehreren Tausend Menschen auf dem Kennedyplatz nannte der OB Dettmann einen „Glücksfall für unsere Stadt“.

Dietrich Dettmann kommt der Liebe wegen im Sommer 2000 nach Essen

Einen „Glücksfall für Essen“ nennt OB Thomas Kufen den Organisator des Ruhr CSD Dietrich Dettmann (2.v.r.) bei der Verleihung des CSD Awards Ruhr 2022 auf dem Kennedyplatz. Maik Schütz (Aidshilfe Essen) und Luise Lorenz vom Forum Essener Lesben und Schwule gratulieren ebenfalls.
Einen „Glücksfall für Essen“ nennt OB Thomas Kufen den Organisator des Ruhr CSD Dietrich Dettmann (2.v.r.) bei der Verleihung des CSD Awards Ruhr 2022 auf dem Kennedyplatz. Maik Schütz (Aidshilfe Essen) und Luise Lorenz vom Forum Essener Lesben und Schwule gratulieren ebenfalls. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Der Grafik-Layouter kam im Sommer 2000 der Liebe wegen nach Essen. „Auf einer Schwulenparty in der Zeche Carl habe ich meinen Freund kennengelernt und bin geblieben“, sagt der 60-Jährige, der in Hagen aufgewachsen ist und dort die erste Schwulengruppe sowie die Aidshilfe mitgegründet hatte.

Großstädte wie Dortmund, Duisburg und Köln hatten vor gut 20 Jahren längst ihren CSD, nur Essen nicht. Also schritt eine Handvoll Aktivisten um Dettmann zur Tat und rief den Ruhr CSD ins Leben. „Wir haben uns von Anfang an als Aktion für das ganze Ruhrgebiet verstanden.“ Zwischen Duisburg und Dortmund, betont Dettmann selbstbewusst, gebe es mehr Homosexuelle und Transmenschen als in Köln.

Dietrich Dettmann (Ruhr Pride) ist in Hagen aufgewachsen. Dort gründete er die Aidshilfe und die erste Schwulengruppe, dann baute er den Ruhr CSD in Essen auf.
Dietrich Dettmann (Ruhr Pride) ist in Hagen aufgewachsen. Dort gründete er die Aidshilfe und die erste Schwulengruppe, dann baute er den Ruhr CSD in Essen auf. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Besonders junge homosexuelle Menschen in Essen erinnert Dettmann gern an die erbittert geführten Kämpfe zu Beginn des Jahrtausends gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Dinge, die heute selbstverständlich erscheinen, seien damals skandalisiert worden. Er berichtet dann beispielhaft von den schmerzhaften Anfeindungen und Kampagnen konservativer Kreise in der Ära von OB Reiniger gegen die Eröffnung der Schwulen-Sauna „Phoenix“ (heute „Pluto“), damals eine der größten und trendigsten im Land. „Nur wegen der Phoenix-Sauna wurde der Viehofer Platz zur Schmuddel-Ecke abgestempelt.“

Erinnerungen an konservative Polemik, als die Schwulen-Sauna Phoenix öffnete

Erfolgsstory Ruhr CSD: Die Veranstaltung in Essen versteht sich als Event für Schwule, Lesben und Transmenschen in der gesamten Region. Unser Bild zeigt Travestie-Ikone Miss Joana beim Umzug am Samstag (6. August) durch die Essener Innenstadt.
Erfolgsstory Ruhr CSD: Die Veranstaltung in Essen versteht sich als Event für Schwule, Lesben und Transmenschen in der gesamten Region. Unser Bild zeigt Travestie-Ikone Miss Joana beim Umzug am Samstag (6. August) durch die Essener Innenstadt. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Die Erfolgsstory des Ruhr CSD habe gezeigt, wie notwendig es für die schwul-lesbische Community gewesen ist, in aller Öffentlichkeit politisch Flagge zu zeigen. Zum ersten CSD hinter der Marktkirche seien höchstens 1000 Leute gekommen, zehn Jahre später seien es schon zehnmal so viele gewesen.

Als „wilde Zeit“ in Erinnerung hat Dettmann die Auseinandersetzung mit Bischof Franz-Josef Overbeck, der Homosexualität in der Polit-Talkshow „Anne Will“ 2010 als Sünde gegeißelt und damit einen Sturm der Entrüstung weit über die Community hinaus entfacht hatte. Längst hätten sich die Wogen geglättet, man gehe inzwischen respektvoll miteinander um und pflege einen Dialog auf Augenhöhe.

Allein die Tatsache, dass homosexuelle Kirchenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter im Bistum Essen heutzutage keine kirchenrechtlichen Disziplinarmaßnahmen und beruflichen Nachteile mehr zu befürchten hätten und obendrein Regenbogen-Fahnen demonstrativ am Kirchturm wehten, verdeutliche die enormen Verbesserungen für Schwule und Lesben in den letzten beiden Jahrzehnten.

Stadt Essen setzt ein klares Zeichen für „geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“ in Essen

Zuerst ging es beim Ruhr CSD 2022 durch die Straßen der Essener Innenstadt, dann wurde auf dem Kennedyplatz gefeiert. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist in Essen heute nahezu selbstverständlich. Das war vor 20 Jahren längst nicht der Fall.
Zuerst ging es beim Ruhr CSD 2022 durch die Straßen der Essener Innenstadt, dann wurde auf dem Kennedyplatz gefeiert. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist in Essen heute nahezu selbstverständlich. Das war vor 20 Jahren längst nicht der Fall. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Vorbei sei auch die bleierne Zeit, als sich schwule Paare etwa beim Ja-Wort im Schloss Borbeck unfreundlich behandelt fühlten. Heute kann es vorkommen, dass sie vor dem OB als Standesbeamten stehen, der selbst mit einem Mann verheiratet und somit einer der ihren ist. Ausdrücklich macht sich die Stadt stark für „geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“ in Essen. Mit Sebastian Stute gibt es mittlerweile schon den zweiten Beauftragten in der Gleichstellungsstelle für die Belange der LGBT-Community. „Come out, Essen“ heißt die aktuelle Ausstellung über 100 Jahre lesbisch-schwule Emanzipation, die im Mai im Haus der Essener Geschichte eröffnet wurde.

Trotz spürbarer Fortschritte denkt Dietrich Dettmann, der LGBT-Aktivist, keineswegs daran, seine Hände in den Schoß zu legen. Als Sprecher des Forums Essener Lesben und Schwule (fels-essen.de) dringt er darauf, dass Handlungskonzept aus der Ära der Oberbürgermeisterin Jäger zu aktualisieren und auf den neuesten Stand zu bringen. Aktuell engagiert er sich für die Schaffung eines Mahnmals für die von den Nazis ermordeten und verfolgten Homosexuellen in Essen. Es gebe eine kleine Gedenktafel an der Gaststätte Panoptikum am Gerlingplatz und Stolpersteine am Grillotheater für verfolgte homosexuelle Theaterleute, aber das sei zu wenig. „Die Grüne Mitte zwischen Innenstadt und Uni-Viertel wäre ein angemessener Standort für ein Mahnmal“, sagt er.

Von Normalität könne so lange nicht die Rede sein, wie schwule, lesbische und Transmenschen Zielscheiben homophober Anmache und Anfeindungen seien. „Es gibt immer noch Ecken in dieser Stadt, in denen ich nicht händchenhaltend mit meinem Freund über die Straße gehen würde.“

Mahnmal in Essen für homosexuelle Opfer der Nazi-Diktatur ist im Gespräch

Bunt und immer auch ein bisschen schrill: Bereits am Umzug durch die Innenstadt nahmen mehr Menschen teil als jemals zuvor. Die Veranstalter zählten zwischen 2500 und 3000 Teilnehmer.
Bunt und immer auch ein bisschen schrill: Bereits am Umzug durch die Innenstadt nahmen mehr Menschen teil als jemals zuvor. Die Veranstalter zählten zwischen 2500 und 3000 Teilnehmer. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener
Engel mit Flügeln in Regenbogenfarben und Kreuz: Kreative Outfits sind beim Ruhr CSD seit jeher gefragt.
Engel mit Flügeln in Regenbogenfarben und Kreuz: Kreative Outfits sind beim Ruhr CSD seit jeher gefragt. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Im schwulen Jugendzentrum an der Kleinen Stoppenberger Straße im Nordviertel sieht Dettmann einen Ort, an dem junge Leute ungezwungen über ihr Coming-out sprechen könnten. Noch immer sei die Selbstmordrate bei schwulen Jugendlichen erschreckend hoch. „Das Zentrum ist ein Schutzraum, wie ich ihn mir in meiner Jugend immer gewünscht habe“, sagt Dettmann. Aber er erwähnt auch gelegentliche Pöbeleien und Provokationen gegen das Jugendzentrum.

Als Träger des Ruhr CSD Awards befindet sich Dietrich Dettmann in prominenter Gesellschaft. Die streitbare und inzwischen verstorbene Theologin Uta Ranke-Heinemann, Tochter des früheren Essener OB und Bundespräsidenten Gustav Heinemann, gehört ebenso dazu wie die frühere grüne Gesundheitsministerin Barbara Steffens. Oft bekommt Dettmann den Spruch zu hören: „Ihr habt doch die Homo-Ehe, was wollt ihr noch mehr?“ Doch dann – ganz Aktivist – pflegt er die Ärmel hochkrempelnd zu antworten: „Es gibt noch viel zu tun.“