Essen-Holsterhausen. Viele ältere schwule und lesbische Menschen sind mit Ablehnung aufgewachsen – und erleben sie bis heute. Eine Essener Gruppe will Tabus brechen.

  • In Essen-Holsterhausen gibt es seit einigen Jahren eine Gruppe für ältere schwule und lesbische Menschen.
  • Im Holsterhauser Zentrum 60 plus tauschen sich die queeren Mitglieder über alles aus, was die beschäftigt: zum Beispiel das Wohnen im Alter.
  • Viele von ihnen hatten in ihrer Jugend keine queeren Vorbilder und haben Diskriminierung erlebt. Die Gruppe bietet ihnen einen geschützten Rahmen.

Jeden ersten und dritten Dienstag treffen sie sich hier, in den Räumen des Zentrums 60 plus im Holsterhauser Melanchthon-Gemeindezentrum: Schwule Männer und lesbische Frauen, alle um die 60 Jahre alt. Auf dem Tisch stehen eine Thermoskanne und eine Lebkuchenschale. Der regelmäßige Treff bietet der queeren Gemeinschaft im Stadtteil und darüber hinaus einen geschützten Rahmen, um über Themen zu sprechen, die sie beschäftigen.

Was alle hier eint: Als sie aufgewachsen sind, war es keinesfalls „normal“, schwul oder lesbisch zu sein. Sie hatten kaum Vorbilder, die sich zu ihrer sexuellen Orientierung bekannten. Viele haben Ablehnung und Diskriminierung erfahren. Sie haben noch bewusst eine Zeit erlebt, in der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe standen. Erst 1994 wurde der Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuches, der die Verfolgung Homosexueller ermöglichte, abgeschafft. Auch heute möchten einige von ihnen nicht mit (vollem) Namen und Alter zitiert werden.

Viele Mitglieder der Essener Gruppe outeten sich erst spät

Die Mitglieder der Gruppe in Essen-Holsterhausen tauschen sich auch über kulturelle und historische Themen aus. Hier liegt ein Magazin auf dem Tisch, das die deutschlandweit erste Homosexuellen-Demonstration in Münster thematisiert.
Die Mitglieder der Gruppe in Essen-Holsterhausen tauschen sich auch über kulturelle und historische Themen aus. Hier liegt ein Magazin auf dem Tisch, das die deutschlandweit erste Homosexuellen-Demonstration in Münster thematisiert. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Geoutet haben sich die meisten Gruppenmitglieder erst in höherem Alter, nicht in allen Fällen reagierte das Umfeld unterstützend. Stefan erzählt zum Beispiel, dass seine Mutter ihn damals zum Psychotherapeuten schicken wollte. Ein anderer Teilnehmer (71) berichtet, sein Vater habe betont: „Bei uns gab’s das früher nicht.“ Familie und Freunde, der Vater inklusive, hätten seine Homosexualität aber dennoch sofort akzeptiert. Das habe ihn auch sehr berührt. Doch vor dem Coming-out in den Neunzigern habe er zehn Jahre lang zu kämpfen gehabt. Sogar einen Psychologen suchte er auf, weil er meinte, dass mit ihm etwas nicht stimme. Zwei Jahre gingen ins Land, bis er dem Therapeuten endlich offenbaren konnte: „Ich glaube, ich bin schwul.“

Eine lesbische Teilnehmerin (65) erzählt, dass ihre über 90-jährige Mutter ihre Homosexualität quasi ausblende. Auch sie outete sich erst spät, hatte zuvor einen Mann geheiratet und Kinder bekommen. „Ich bin auf dem Land groß geworden, da war Lesbischsein einfach kein Thema“, sagt sie. Und so seien ihre Gefühle lange unterschwellig geblieben. Heute ignoriere es die Mutter, wenn sie ihr ein Foto ihrer Partnerin zeige: „Es ist sehr schade, dass ich diesen wichtigen Teil meines Lebens nicht mit ihr teilen kann.“ Ansonsten erhalte sie aber vorwiegend positive Reaktionen, wenn sie sich mit ihrer Partnerin in der Öffentlichkeit zeige – vor allem von Frauen.

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Schwule und lesbische Teilnehmer tauschen sich in Essen über das Wohnen im Alter aus

Johannes Persie berichtet, dass die noch ältere Generation noch viel größere Probleme hat, offen mit ihrer Sexualität umzugehen. „Man kann davon ausgehen, dass es viele Menschen über 80 gibt, die geheiratet und Kinder bekommen haben und bis heute nicht über ihre Homosexualität sprechen“, sagt er. Auch die Möglichkeit, wegen einer Verurteilung nach Paragraf 175 Schadensersatz geltend zu machen, nutzten viele Betroffene nicht: „Sie wollen mit dem ganzen Thema einfach nichts mehr zu tun haben.“ Und erst recht gingen sie nicht ins Pflegeheim und verkündeten als erstes ganz offen: Ich bin schwul.

Zwei Treffen im Monat

Die queere Gruppe trifft sich an jedem ersten und dritten Dienstag im Monat im Melanchthon-Gemeindezentrum (Melanchthonstraße 3). Von 17 bis 19 Uhr gibt es einen offenen Treff, jede oder jeder Interessierte kann einfach vorbeikommen. Danach trifft sich ein neu gegründeter queerer Chor bis 21.15 Uhr.

Es gibt die Möglichkeit, sich in geschütztem Rahmen über persönliche und intime Dinge auszutauschen. „Nichts dringt nach außen“, verspricht Johannes Persie. Auch über kulturelle Angebote, zum Beispiel Theaterstücke, Bücher und Filme, wird in der Gruppe gesprochen.

Weitere queere Gruppen treffen sich in den Zentren 60 plus Messings Garten (zweiter und vierter Dienstag im Monat ab 19 Uhr) und Isenbergstraße (jeder zweite und vierte Donnerstag ab 18 Uhr).

Die Gruppe in Holsterhausen bietet queeren Menschen die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen auszutauschen, die ähnlich denken und fühlen wie sie selbst, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind. Ein großes Thema ist zum Beispiel die Frage: Wie möchte ich im Alter leben? „Heteros haben Verwandte, Homosexuelle häufig eher eine Wahlfamilie“, sagt Persie. Das liege daran, dass viele ältere queere Menschen keine Kinder und Enkelkinder hätten oder sich die Familie nach ihrem Coming-out von ihnen abgewendet habe. Und so stelle sich umso mehr die Frage, wie und wo man seinen Lebensabend verbringen möchte, wenn man Single oder der Partner schon verstorben ist.

Essener: Queerness ist in Pflegeeinrichtungen häufig kein Thema

Gerade viele Pflegeeinrichtungen seien nicht auf die Bedürfnisse queerer Seniorinnen und Senioren ausgerichtet, kritisiert Johannes Persie. So fehle etwa häufig das Verständnis dafür, dass Diversität in der Belegschaft Sinn mache. Denn schließlich könne man davon ausgehen, dass ein Teil der Bewohnerinnen und Bewohner schwul oder lesbisch ist. Doch in Zeiten von extremen Personalmangel heiße es dann erstaunt: „Sie wollen einen schwulen Pfleger? Wieso das denn?“

Dass sich in puncto Akzeptanz dennoch viel getan hat, darüber sind sich alle in der Gruppe einig. Allerdings gibt es noch immer Bereiche, in denen sie das Gefühl haben, nicht offen über ihre Sexualität sprechen zu können. Dazu gehört zum Beispiel die Kirche. Und nicht alle von ihnen würden heute Hand in Hand mit ihrem Partner durch die Fußgängerzone laufen. „Woanders würde ich das machen“, sagt einer, „in meiner Heimatstadt aber lieber nicht.“ Manchmal fragen sie sich in der Gruppe: Warum sind wir hier eigentlich so wenige, wenn es doch so viele schwule und lesbische Menschen gibt? Sie sind ist überzeugt: „Wir müssen uns zeigen.“