Essen. Klänge gegen das Vergessen: Philharmonie Essen organisiert Konzerte für Menschen mit Demenz. Das Angebot holt auch Angehörige aus der Isolation.
„Oh du Fröhliche!“ Frau Hildebrandt stimmt laut und feierlich mit ein, wie damals, als sie noch ein Kind war und das Weihnachtslieder-Singen zum Familienfest dazu gehörte. „Wir waren vier Mädels und haben immer gerne gesungen“, erinnert sich die Seniorin. „Oh Tannenbaum, das war unser Lieblingslied.“ Mittlerweile ist Frau Hildebrandt 87, seit kurzem lebt sie in einer Senioreneinrichtung auf der Margarethenhöhe.
Die Weihnachtszeit ist für viele Bewohner dort anders geworden. Und die Erinnerung an „damals“, als die Weihnachtstage noch geschäftig ausgefüllt waren mit Baumschmücken, Geschenke verpacken und Festtagsessen zubereiten – sie verschwindet allmählich. Die Klänge von damals aber, sie sind an diesem Nachmittag in der Essener Philharmonie sofort wieder da, beim Adventskonzert für Menschen mit Demenz.
Klänge gegen das Vergessen: Musik gilt als „Königsweg“ im Bereich Demenz
Seit zehn Jahren bietet die Philharmonie Essen dieses besondere Konzertformat für ältere Menschen und ihre Angehörigen an. Ins Leben gerufen wurde das Projekt in Essen von Anja Renczikowski. Sie ist Konzertgeragogin: Das heißt, sie beschäftigt sich mit der Kulturvermittlung bei älteren Menschen. In verschiedenen Projekten hat sie seit vielen Jahren erfahren, wie die Musik auch vermeintlich längst verschlossene Türen zu Erinnerungen wieder öffnen und Emotionen wecken kann. Mittlerweile haben schon zahlreiche Einrichtungen die Musik als „Königsweg“ im Bereich der Demenz erkannt. Und zwar unabhängig von den musikalischen Erfahrungen der Besucherinnen und Besucher und der Frage, wie weit die Erkrankung fortgeschritten ist.
Gefördert wird das Projekt in Essen von der Krupp-Stiftung, zweimal im Jahr finden die Konzerte für Menschen mit Demenz im RWE-Pavillon statt, wo an diesem Nachmittag nicht nur ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum und der Aalto-Kinderchor auf die Zuhörer warten. Silvia Weiskopf, Ensemblemitglied am Schauspiel Essen, hat sich zudem eine kuschelige Decke auf die Knie gelegt und am Rande der Bühne als Erzählerin Platz genommen. „Bübchens Weihnachtstraum“, ein Krippenspiel von Engelbert Humperdinck steht schließlich auf dem Programm.
Im Nu füllen die festlichen Klänge den hohen Raum, herrscht eine entspannte Ruhe und Aufmerksamkeit unter den Besuchern, die aus verschiedenen Essener Senioreneinrichtungen ins Konzerthaus gekommen sind. Der Grad der Demenzerkrankung sei dabei völlig unerheblich und keine Voraussetzung. „Jeder kann kommen“, sagt Anja Renczikowski, „wir überlassen das den Einrichtungen.“ Vor allem auch Menschen, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen und sonst oft unter der Isolation leiden, seien zu den Konzerten herzlich eingeladen.
Angebot für Menschen mit Demenz
Nach neuesten Berechnungen leben in Deutschland derzeit rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung.
Bisher wurden die Betroffen vom Kulturleben weitgehend ausgeschlossen, obwohl sie den örtlichen Kulturinstitutionen zuvor oft viele Jahre lang die Treue gehalten haben. Viele Konzerthäuser machen mittlerweile aber Angebote.
In Essen werden die Konzerte zusammen mit dem Regionalbüro Alter, Pflege und Demenz Region Westliches Ruhrgebiet und dem kubia-Kompetenzzentrum für Kultur und Bildung im Alter im Institut für Bildung und Kultur e.V. veranstaltet. Der Eintritt ist ermäßigt und kostet 6,60 Euro.
Für die Begleitpersonen sei das Format in mehrfacher Hinsicht ein Lichtblick, weiß Renczikowski. Zum einen genießen viele, mit ihren an Demenz erkrankten Ehepartnern, Freunden oder Eltern gemeinsam etwas Schönes erleben zu können und wieder Teilhabe am kulturellen Leben zu erfahren. Zum anderen müsse sich niemand sorgen, dass die demenziell veränderten Menschen für mehr Unruhe sorgten, als es die Konvention in einem Konzertsaal sonst vorgibt. Ganz im Gegenteil sei es bei diesen Konzerten meist sogar „extrem ruhig“, sagt Renczikowski. „Musik nimmt alle mit“, lautet ihre Devise. Vor allem aber nehme sie der Diagnose Demenz auch ein wenig den Schrecken.
„Wir haben den Leuten ein Lächeln ins Gesicht gezaubert“
Auch für die Sängerinnen und Sänger des Aalto-Kinderchors ist der Auftritt etwas Besonderes. „Die Leute kommen auf einen zu, man hat viel Kontakt mit dem Publikum“, freut sich Alexandra Bruckmann über die Resonanz der Zuhörer. In der Tat gibt es nach dem Konzert nicht nur Applaus, sondern auch so manchen freudigen Dank „Wir als Chor haben den Leuten ein Lächeln ins Gesicht gezaubert“, freut sich Hannah Xander. Und Chorleiter Patrick Jaskolka hat sich bereits vorgenommen, in der Zukunft vielleicht noch etwas experimentierfreudiger zu werden und Neues auszuprobieren. Er kann sich auch ein Konzert mit „Musik aus anderen Kulturen“ vorstellen. „Im Prinzip funktioniert alles, was nicht allzu komplex ist und was musikalisch zwischen Barock und Romantik liegt“, erklärt Anja Renczikowski.
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Im Frühjahr und Herbst finden die Konzerte für Menschen mit Demenz in der Regel statt. Klassische Musik in Kammermusikbesetzung ist dabei ebenso zu erleben, wie ein Operetten-Programm im Frühling oder eben Adventslieder zur Weihnachtszeit, die an diesem Nachmittag zum Teil auch gemeinsam gesungen werden. Bei „Es ist ein Ros’ entsprungen“ stimmen die Zuschauer erst zaghaft, dann immer kräftiger ein.
Wichtig sei bei Konzerten für Menschen mit Demenz aber nicht nur die Frage der Programmgestaltung, sondern auch die Barrierefreiheit nebst entsprechender Logistik, betont Anja Renczikowski. Dazu gehört, dass die Konzertbesucher im Rollstuhl neben ihren Angehörigen sitzen können. Denn nur so kann die Musik Menschen aus ihrer Isolation herausholen und die Besucher im übertragenen wie im wörtlichen Sinne wieder bewegen.