Essen. CDU-Chef Merz hat Ukrainern Sozialtourismus vorgeworfen. Ein Essener Geschäftsmann schildert, aus welch verzweifelter Lage die Menschen fliehen.

Mit seinem später zurückgenommenen „Sozialtourismus“-Vorwurf gegen ukrainische Flüchtlinge hat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz bundesweit Empörung ausgelöst. Der Essener Geschäftsmann Thomas Schiemann, der seit Beginn des Krieges Hilfe für das Land organisiert und sich vor Ort um ukrainische Familien kümmert, erklärte entsetzt: „Ich schäme mich heute, in der CDU zu sein.“ Die spätere Entschuldigung von Merz besänftigte ihn kaum: Der CDU-Chef hätte seine Wortwahl vorher bedenken sollen. Die Stadt Essen erklärte außerdem, dass sie keine Anhaltspunkte für „eine widerrechtliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ habe.

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Merz hatte im Gespräch mit „Bild TV“ erklärt, dass eine größere Zahl der ukrainischen Schutzsuchenden die unbürokratische Unterstützung in Deutschland nach Bedarf wahrnähmen und sich „dieses System zunutze machen“. Der CDU-Chef erklärte wörtlich: „Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge – nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine.“ Seine Partei habe schon im Frühjahr auf das Problem hingewiesen, doch die Ampel-Koalition habe sich „taub gestellt“.

Essener wirft Friedrich Merz reinen Populismus vor

Thomas Schiemann, der mit einer Ukrainerin verheiratet ist und vielfältige Kontakte in das Land hat, machen die Äußerungen fassungslos: „Das ist AfD-Niveau und reiner Populismus schlimmster Sorte.“ Auch Friedrich Merz dürfte bekannt sein, dass die Männer die Ukraine gar nicht verlassen dürften. „Und die Kinder gehen hier diszipliniert zur Schule, die Mütter lernen Deutsch.“ Ihre Anstrengungen ließen sich vielfach belegen, sagt Schiemann, „so sind die Integrationskräfte voll ausgebucht“.

Tatsächlich gebe es Ukrainer, die nach vielen Wochen und Monaten in Deutschland kurzzeitig in ihre Heimat zurückreisten. Das sei aber der belastenden Situation geschuldet, die zahllose Familien auseinandergerissen habe. Es sei zynisch, hier den Begriff „Tourismus“ zu verwenden. „Oder meint Herr Merz etwa Menschen wie unser 13 Jahre altes Pflegekind, das in den Herbstferien mit Bekannten von uns in die Ukraine fährt, um nach sieben Monaten seine Eltern zu treffen, die von der Armee ein paar Tage frei bekommen haben, um ihr Kind sehen zu können?“

Eine Sprecherin der Stadt bestätigte, dass einige Menschen aus der Ukraine die Möglichkeit der zeitweiligen Rückreise nutzten, damit Kinder ihren Vater sehen können. Manchmal würden auch noch wichtige Unterlagen wie Zeugnisse für das Anerkennungsverfahren in Deutschland besorgt. Andere wollten klären, ob die Sicherheitslage eine Rückkehr in die Heimat zulasse. Sprich: Die Gründe für die Reisen ins Heimatland lägen also „im Fluchtkontext“, Hinweise auf Sozialleistungsmissbrauch gebe es nicht.

Helfen der Ukraine in vielfältiger Weise: Der Essener Geschäftsmann Thomas Schiemann und seine Frau Liudmyla.
Helfen der Ukraine in vielfältiger Weise: Der Essener Geschäftsmann Thomas Schiemann und seine Frau Liudmyla. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Schiemann und seine Ehefrau haben Kontakt zu zahlreichen ukrainischen Familien in Essen und helfen diesen beim Einleben. Er habe niemanden erlebt, der hier nur die finanzielle und materielle Unterstützung annehme und keine Gegenleistung erbringe. „Wir haben in Deutschland Zehntausende, vielfach gut ausgebildete Menschen aufgenommen, die unsere Werte teilen und unser Land nach vorne bringen werden, sobald sie die Sprache beherrschen.“

Er kenne außerdem auch die Situation im Land und an den Grenzübergängen, so hatte er Anfang September einen Transport mit dringend benötigtem medizinischen Material ins ukrainische Lwiw (Lemberg) begleitet. „Ich habe neun Stunden am wichtigsten Grenzübergang in Polen gestanden. Da findet nicht der Ansatz von Tourismus statt.“

Menschen fliehen vor Bomben und Zerstörung

Schiemann weiß, dass Merz’ Äußerung auch zahlreiche Ehrenamtliche getroffen hat, die sich in Essen um Flüchtlinge kümmern. Ebenso äußerten sich Vertreter von Institutionen, die Hilfstransporte in die Ukraine organisiert haben. Die bisher erlebte beispiellose Solidarität mit den Opfern des Krieges werde vom CDU-Chef torpediert. Schiemann schildert, dass er bei seiner Reise in die Ukraine Bombenalarm und andere beängstigende Situationen erlebt, Kinder mit schwersten Verletzungen und Verstümmelungen besucht, zerstörte Städte und gespenstische Leichenzüge auf Landstraßen gesehen habe. Wer wie Merz Flüchtlingen aus einem solchen Land Tourismus unterstelle, „handelt absolut verantwortungslos und schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt“.

Nach der einhelligen Empörung über seine Äußerung hat sich der CDU-Vorsitzende inzwischen entschuldigt: Er bedauere, dass er von „Sozialtourismus“ gesprochen habe. „Das war eine unzutreffende Beschreibung eines in Einzelfällen zu beobachtenden Problems“, twitterte Merz. „Mein Hinweis galt ausschließlich der mangelnden Registrierung der Flüchtlinge.“ Man müsse eine solche Entschuldigung wohl gelten lassen, sagt Schiemann. Doch es sei unerklärlich, dass sich Merz überhaupt zu einer solchen Wortwahl habe hinreißen lassen: „Ein Politiker in dieser Position sollte sich vorher überlegen, was er sagt.“