Essen. Freitag starten die Ferien: Stauforscher Michael Schreckenberg aus Essen erklärt, warum es dann kaum Sinn macht, von der Autobahn abzufahren.
Rüttenscheider Straße, Gladbecker Straße, Ruhrallee und schließlich die A40: Warum es dort auch in den kommenden Jahren immer wieder Stau geben wird und wie man die Situation verbessern könnte, erklärt Michael Schreckenberg im Interview. Er ist Stauforscher an der Uni Duisburg-Essen. Für die Rüttenscheider Straße schlägt er einen verkehrsberuhigten Bereich vor und hat auch eine Idee, wie man den Einzelhandel dann trotzdem am Leben halten könnte.
Hinweis: Dieses Interview erschien zuerst im Sommer 2022.
Auf welchen Straßen in Essen steht man am häufigsten im Stau?
Michael Schreckenberg: Wenn ich an Essen denke, denke ich zuerst an die A 40.
Warum staut es sich auf der A 40 so häufig?
Unter anderem liegt das an den vielen Auf- und Abfahrten. Bei den Abfahrten ist das Problem, dass oft direkt dahinter eine Ampel ist, das führt zum Rückstau auf der Autobahn. Um das zu verhindern, müsste die Zusammenarbeit von der Bundes-Autobahngesellschaft und den kommunalen Straßenbauträgern besser funktionieren. Dann könnte man beispielsweise die Ampelphasen anpassen.
Stau-Verursacher merkt oft nicht, was er angerichtet hat
Warum sind auch Auffahrten Schuld am Stau?
Wenn viele Leute auf die Autobahn wollen, bedeutet das einen erheblichen Zusatzverkehr. Nimmt man zum Beispiel den Zubringer der A 52 zur A 40 in Bergerhausen. Wer auf der A 40 aus Richtung Duisburg unterwegs ist, fährt oft vor dieser Stelle im zähfließenden Verkehr, weil so viele auffahren. Würden sich alle möglichst gleichmäßig fortbewegen, würde der Verkehr fließen. Das klappt im Straßenverkehr selten. Wenn dann einer stärker bremst, muss der nächste noch stärker bremsen und so weiter, bis zum Stillstand. Es entsteht eine Stauwelle, die sich noch Kilometer weiter hinten auswirkt – ohne dass der Verursacher merkt, was er angerichtet hat. Er erhält keine Rückmeldung über die Konsequenz des Verhaltens, kann es somit nicht hinterfragen und der Lerneffekt bleibt aus.
Könnte eine zusätzliche Spur Entlastung schaffen?
Damit verlagert man oft nur das Problem. Eine Autobahn wird selten auf der gesamten Länge um eine Spur erweitert. Dort, wo wieder eine Spur weggenommen wird, entsteht dann wieder eine Engstelle und somit eine Stauwelle. Das Reißverschlussverfahren an solchen Stellen oder an Baustellen funktioniert meistens auch nicht gut. Die Leute fahren zwar bis vorne, werden aber nicht schnell genug reingelassen. Studien zeigen, dass der Durchsatz an Pkw in einer Baustelle somit viel geringer ist als möglich.
Wenn man von der A 40 abfährt, dauert es nicht lange und man steht auf der Ruhrallee wieder im Stau, oder auch auf der Gladbecker Straße. Woran liegt das?
Das ist historisch bedingt. Die A 52 ist nie weitergebaut worden, somit übernimmt die B 224 die Rolle einer Autobahn ohne diese erfüllen zu können. Der Grund für die Staus auf der Gladbecker Straße sind hauptsächlich die Ampeln.
Kreisverkehre sind nicht immer sinnvoll
Warum errichtet man nicht mehr Kreisverkehre?
Das hat zum einen wirtschaftliche Gründe – mit Ampeln und der Wartung verdienen bestimmte Firmen sehr viel Geld. Kreisverkehre benötigen zudem viel mehr Platz als Ampelkreuzungen. Außerdem sind sie zwar sicherer, aber nur, solange wenig Rad- und Fußverkehr dabei ist. Fußgänger und Radfahrer werden in Kreisverkehren oft übersehen. Baut man einen Kreisverkehr zudem dort, wo es eine dominante Richtung gibt, also beispielsweise von der Innenstadt Richtung A 42 und zurück, haben Autofahrer, die von Westen oder Osten kommen, kaum eine Chance je in den Kreisverkehr zu fahren, weil der immer voll ist.
Gladbecker Straße und Ruhrallee müssten also eigentlich Autobahnen sein, um Stau zu vermeiden. Wie sieht es mit der Rüttenscheider Straße aus? Da stehen Radfahrer genauso im Stau wie Autofahrer und Fußgänger gibt es dort auch nicht wenige.
Die Rüttenscheider Straße müsste eigentlich zu einer Spielstraße beziehungsweise einem verkehrsberuhigten Bereich umfunktioniert werden. Dann hätten die Fußgänger Vorrang, Parkflächen müssten explizit gekennzeichnet werden. (Anmerkung: Umgangssprachlich ist die Rede von Spielstraßen, wenn sie mit einem rechteckigen, blau-weißen Schild mit spielenden Kindern darauf markiert sind. Dieses Verkehrszeichen markiert allerdings einen verkehrsberuhigten Bereich. Eine richtige Spielstraße ist mit einem runden rot-weißen Schild mit dem Zusatzzeichen eines Ball spielenden Kindes gekennzeichnet. Dort gilt ein Verbot für Fahrzeuge aller Art.)
Die Einzelhändler werden davon ganz und gar nicht begeistert sein.
Man muss Angebote schaffen, damit die Leute trotzdem zu den Geschäften kommen. Die Rüttenscheider Straße wäre ein ideales Umfeld, um autonome Kleinbusse einzusetzen, wie es sie bereits in Monheim gibt. Der französische Hersteller Navya bietet Elfsitzer an, die die Leute gut über die Rüttenscheider Straße zu den Geschäften fahren könnten.
Würde autonomes Fahren auch die Staus auf Autobahnen und Bundesstraßen verhindern?
Eine aktuelle Doktorarbeit einer meiner Studenten zeigt, dass man die Kapazität der Straßen verdoppeln könnte, wenn ausschließlich autonome Fahrzeuge unterwegs wären. Das gilt allerdings für Laborbedingungen. Es dürfte also keine Katze die Straße queren, kein Fußgänger unterwegs sein und keine technischen Probleme auftauchen.
Zunächst wird es wahrscheinlich irgendwann eine Mischung von autonomen Fahrzeugen und jenen mit echten Menschen am Steuer auf den Straßen geben. Hilft das schon gegen Staus?
Das bringt ein furchtbares Durcheinander, weil die Menschen keinerlei Erfahrung mit autonomen Fahrzeugen haben, die sich auch tatsächlich anders verhalten. Die Reaktionszeit von Menschen beträgt beispielsweise rund eine Sekunde, bei autonomen Fahrzeugen nur eine Zehntel Sekunde.
9-Euro-Ticket hat nicht zu weniger Verkehr auf den Straßen geführt
Was kann also getan werden, damit es weniger Stau auf den Straßen gibt?
Restriktionen funktionieren kaum, wie Erfahrungen zeigen. Auch wenn der Spritpreis über 2 Euro liegt, fahren die Leute weiter Auto. In anderen Ländern gibt es eine Citymaut, die wird dann trotzdem gezahlt, oder an manchen Tagen dürfen nur Autos mit geradem Kennzeichen in die Innenstadt und an anderen Tagen jene mit ungeraden. Dann haben die Menschen eben mehrere Autos und umgehen das auf diesem Weg.
Welche Lösungen würden denn helfen?
Es muss ein vernünftiges Alternativangebot präsentiert werden. Das kann eigentlich nur der öffentliche Personennahverkehr sein und eine ausgebaute Rad-Infrastruktur. Radfahren ist aber wetterabhängig und für weite Strecken keine gute Alternative. Die Deutsche Bahn und die Verkehrsbetriebe machen außerdem derzeit ein riesiges Minusgeschäft und das Angebot ist mäßig bis schlecht, bietet kaum Zuverlässigkeit.
Durch das 9-Euro-Ticket?
Studien zeigen schon jetzt, dass der Autoverkehr dadurch nicht nachgelassen hat. Der Vorteil beim 9-Euro-Ticket ist, dass man überall fahren kann. Das nutzen auch Leute, die sonst vielleicht gar nicht unterwegs gewesen wären. Es sind also mehr Leute im öffentlichen Verkehr – in den Zügen, aber auch in den Autos zu den Bahnhöfen oder auf den Straßen, um den vollen Zügen zu entkommen.
Zur Person
Michael Schreckenberg (66) hat Theoretische Physik an der Universität Köln studiert und 1985 promoviert. 1992 veröffentlichte er mit Kai Nagel das so genannte Nagel-Schreckenberg-Modell des Autobahnverkehrs um die Frage zu klären, wie Staus aus dem Nichts entstehen. Berühmtheit erreiche das Modell auch, weil der Comedian Oliver Pocher in der Rtl-Sendung „Wer wird Millionär“ mit seinem Wissen darüber die Millionen-Frage im Jahr 2008 richtig beantwortete.
1994 wechselte Schreckenberg zur Universität Duisburg-Essen, wo er 1997 Lehrstuhlinhaber für Physik von Transport und Verkehr wurde. Seit Mitte der 1990er-Jahre befasst er sich mit der Modellierung, Simulation und Optimierung von Transportsystemen in großen Netzwerken, besonders dem Straßenverkehr, und dem Einfluss von menschlichem Verhalten darauf.
Könnte es nicht auch eine Alternative sein, Staus zu umfahren, wenn das Navi sie anzeigt?
Wenn man die Gladbecker Straße oder die Ruhrallee meiden will, muss man sie schon sehr großräumig umfahren, das dauert oft noch länger als der Stau. Bei Stau auf Autobahnen macht es auch oft keinen Sinn abzufahren. Dann kommt man in das nachgeordnete Straßennetz mit Ampeln und Kreuzungen und es kommt aufs Gleiche raus. Abfahren macht nur bei einer Sperrung Sinn.
Zu welchen Uhrzeiten sollte man am besten unterwegs sein?
Am besten fährt man nach der Morgenspitze, also zwischen 10 und 11 Uhr und dann über die Mittagszeit. Das ist auch eine gute Zeit, um in den Urlaub aufzubrechen.
Deprimiert es Sie als Experte nicht, dass es absehbar keine gute Lösung für das Stau-Problem gibt?
Wir müssen uns damit abfinden, es gibt kaum einen Ausweg aus der Situation. Die Menschen erzeugen den Stau ja selbst – auch, weil sie mit ihren schönen Autos unterwegs sein wollen und ein gewisses Bewegungsbedürfnis haben. Eine Möglichkeit ist, zu Randzeiten zu fahren. Das geht nicht bei allen Berufstätigen, aber bei einigen. Vor allem jetzt, wo es die Möglichkeit für Home-Office vermehrt gibt.
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