Essen. Ob Wohnraum, Schule, Arbeitsplatz oder Bus und Bahn: Die Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen in Essen fordert Barrierefreiheit.

Die Gründung liegt ein halbes Jahrhundert zurück, da traf die Aufbruchstimmung der 1970er Jahre auf einen Missstand, den die Essener mit Behinderungen nicht hinnehmen wollten. So entstand 1971 die heutige Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen in Essen e.V. (AGSBM), die am Samstag (13.8.2022) mit einer coronabedingten Verzögerung ihr 50-jähriges Bestehen feiert.

Missstand rief Essener Vereine auf den Plan

Die jetzige Vorsitzende des Vereins, Angela Ströter, spricht von einem gesellschaftlichen Klima, das damals Selbstbestimmung und Eigenverantwortung in vielen Lebensbereichen brachte: „Auch die Behindertenbewegung löste sich aus der Umklammerung der Fürsorge des Staates und der Wohlfahrtsverbände. Sie bildete eigene Strukturen und fing an, eigenverantwortlich zu handeln.“ Und: Die Selbsthilfeverbände erhielten nun direkte Fördermöglichkeiten.

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Dass sich in Essen im Januar 1971 fünf Vereine zum Austausch trafen, hatte einen ernsten Anlass: 250 körperbehinderte Kinder erhielten damals eine Heilbehandlung durch drei Betreuerinnen. „Dieser Missstand war im wesentlichen auf die schlechte Bezahlung durch die Kommune zurückzuführen“, sagt Angela Ströter. So schlossen sich der Pfadfinderstamm Cosmas & Damian, der für seine integrative Kinder- und Jugendarbeit bekannt war, der Verein Lebenshilfe für geistig Behinderte, der Verband der Contergan-Geschädigten, der Bürger- und Verkehrsverein Rüttenscheid und der Verein für Kinderhilfe zusammen. Sie gründeten die Arbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte in Essen (so der damalige Name), um nicht nur gegen diesen Missstand zu kämpfen, sondern allgemein für Integration.

Barrierefreier Wohnraum ist immer noch Mangelware

Heute gehe es nicht mehr darum, Menschen mit Behinderung in bestehende Systeme zu integrieren, sondern „um die Teilhabe aller, durch die Schaffung eines Umfelds, in dem Menschen in ihrer Vielfalt angenommen werden“. Das neue Leitbild heißt Inklusion. Geregelt und mit Eingliederungshilfen unterfüttert werde die durch das Bundesteilhabegesetz. „Das BTHG ist noch nicht rund, aber auf dem Weg“, sagt Ströter.

Sommerfest zum Jubiläum

Die Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen in Essen e.V. (AGSBM) sitzt im Haus der Begegnung, I. Weberstr. 28. Infos/Kontakt: 0201 228939 oder per Mail an:

Am Samstag, 13. August, feiert die AGSBM von 12.30 bis 16 Uhr ihr 50+1-jähriges Jubiläum mit einem Sommerfest im und am Haus der Begegnung.

Der Verein hat seit 2018 eine unabhängige und kostenfreie Beratungsstelle im Haus: Die Teilhabe-Beratungsstelle (EUTB) ist telefonisch erreichbar unter 0201 84676354 und 0201 84676355. E-Mail:

Essen ruft gerade einen Inklusionsbeirat ins Leben. Die AGSBM wirkt dabei mit und setzt sich dafür ein, dass die Betroffenen als Fachleute in eigener Sache die Mehrheit bilden. Bürger*innen mit Behinderungen können sich bis 15. August 2022 hier für den Inklusionsbeirat bewerben: www.essen.de/leben/soziales_und_arbeit/inklusionsbeirat/inklusionsbeirat_.de.html

Unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft setzen sich heute 46 Vereine für Inklusion ein. Sie haben manche Verbesserung erstritten – und manches Thema noch immer auf der Agenda. Das gelte etwa für den Mangel an Neubauwohnungen für körperbehinderte Menschen, sagt Angela Ströter. In den vergangenen Jahrzehnten seien vor allem Angebote für Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Mehrfachdiagnosen ausgebaut worden, meist im betreuten Wohnen. „Wenn es aber darum geht, dass Menschen nicht ins betreute Wohnen wollen, sondern einfach nur eine barrierefreie Wohnung suchen, ist es nach wie vor sehr schwer.“

Die Mobilität von Menschen mit Behinderung hat sich verbessert

Wenig getan habe sich bei Dauerbrennerthema Nummer 2: die öffentlichen Toilettenanlagen. Dabei mache hier auch der Seniorenrat Druck auf die Stadt. Immerhin: Der Euro-WC-Schlüssel öffnet europaweit viele barrierefreie WCs, etwa an Bahnhöfen oder an Autobahnen; er ist für 23 Euro bei der Arbeitsgemeinschaft erhältlich.

Was die Mobilität betrifft, gebe es spürbare Fortschritte. So habe die Verwaltung früher oft abgelehnt, abgeflachte Bordsteine an Ampelübergängen zu schaffen. „Da sind wir zum Glück einen Riesenschritt weiter. Heute gibt es jede Menge barrierefreier Übergänge“, sagt Ströter. Sowohl mit den Bezirksvertretungen als auch mit dem Amt für Straßen und Verkehr arbeite die AGSBM eng zusammen.

Nicht immer wird an Barrierefreiheit gedacht: So protestierten Rollstuhlfahrer im Juli 2021, weil das neue Stadtteilbüro nur über mehrere Stufen zu erreichen ist.
Nicht immer wird an Barrierefreiheit gedacht: So protestierten Rollstuhlfahrer im Juli 2021, weil das neue Stadtteilbüro nur über mehrere Stufen zu erreichen ist. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Verbessert habe sich auch die Barrierefreiheit von Bussen und Bahnen. „Mit der Ruhrbahn stehen wir im engen Kontakt. Hier werden sukzessive zunehmend mehr Haltestellen barrierefrei umgebaut.“ Von der völligen Barrierefreiheit sei man hier aber – trotz gesetzlicher Vorschriften – noch entfernt. Ebenso bei der Bahn, wo es beim Ein- und Aussteigen Dank neuer Züge und unterschiedlicher Bahnsteighöhen neue Hindernisse gebe. Im Archiv hat die AGSBM einen Brief von 1973 gefunden, in dem sie den damaligen Oberbürgermeister Horst Katzor bittet, sich für den barrierefreien Umbau des Hauptbahnhofs einzusetzen: Im Kulturhauptstadtjahr 2010 war er dann barrierefrei – nach 37 Jahren.

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Verein kämpft für Teilhabe und berät Betroffene

Noch längeren Atem brauche man, wenn es um die inklusive Bildung gehe. Schon vor Jahrzehnten habe der Verein um die Aufnahme von Rollstuhlfahrern in Regelschulen gerungen. Heute lasse sich Inklusion zumindest an Kindergärten und Grundschulen leichter umsetzen, etwa mit individuellen oder Klassen-Assistenzen. An weiterführenden Schulen sei das schwieriger. Dabei zeige sich im europäischen Ausland, dass Inklusion mit guten Konzepten möglich sei – und am Ende alle Kinder davon profitierten.

Als Lobby, die für Teilhabe und den Abbau von Barrieren kämpft, setzt sich die Arbeitsgemeinschaft regelmäßig mit neuen Themen auseinander. Gleichzeitig bietet sie Menschen mit Behinderung Beratung und Lebenshilfe. Dafür stelle die Stadt dem Selbsthilfe-Verein seit Jahren Räume im Haus der Begegnung zur Verfügung, sagt Angela Ströter. „Das zählt zu den erfreulichen Entwicklungen.“