Essen. Als Jugendliche verlor Nadine Rokstein ihr Augenlicht und meisterte trotzdem Abi und Studium. Heute berät die Essenerin Menschen mit Behinderung.
Acht Jahre ist es her, dass Nadine Rokstein ihr Augenlicht verlor und damit auch ihren Traumberuf aufgeben musste. Heute ist die 25-Jährige Sozialarbeiterin und berät Menschen mit Behinderungen, hilft ihnen teilzuhaben am Alltagsleben wie im Beruf.
„Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung - Trägerbündnis Essen“ (EUTB) heißt die Anlaufstelle im Haus der Begegnung im Essener Nordviertel, in der Nadine Rokstein gemeinsam mit vier Kolleginnen arbeitet. Die Berufseinsteigerin ist im Mai dort gestartet, nachdem sie während des Studiums auch Praktika in anderen sozialen Bereichen gemacht hatte. „Ich habe einiges ausprobiert. Aber dann dachte ich, dass es bei der Arbeit hier vielleicht helfen kann, dass ich selbst betroffen bin.“
Binnen fünf Monaten schwindet die Sehkraft die Jugendlichen immer mehr
Diese persönliche Betroffenheit ist bei der Arbeit der EUTB, die es bundesweit gibt, ausdrücklich erwünscht und erleichtert ein Gespräch auf Augenhöhe. Nadine Rokstein etwa kennt nicht nur das Leben mit einer Behinderung, sondern auch das Leben davor. Sie kommt sehend zur Welt, entwickelt ein großes visuelles Interesse, will Fotografie und Medienkunst studieren, Designerin werden. Doch eines Tages verdunkelt sich ihr rechtes Auge, ein Schatten, der auch nach einer Woche nicht verschwindet.
Die Schülerin geht zum Augenarzt, der ihr nicht helfen kann. Sie wird lange keine Diagnose bekommen, wird im Krankenhaus liegen und miterleben, wie ihr Sehvermögen auf beiden Augen schwindet. Nach fünf Monaten sieht sie praktisch nichts mehr. „Ich bin gesetzlich blind“, sagt Nadine Rokstein. Das heißt, sie habe noch eine minimale Sehkraft von zwei Prozent.
Heute weiß sie, dass sie einen seltenen Gendefekt hat. „Damals war es für mich ein Schock, für meine Familie, es betraf ja uns alle.“ Sie muss das Berufskolleg mit Schwerpunkt Gestaltung verlassen, wechselt zur Förderschule, lernt Brailleschrift… macht Abi und geht zum Studium der Sozialarbeit aus der Heimat in Ostwestfalen-Lippe nach Essen.
„Die größte Hürde ist das Ansprechen“
Nadine Rokstein ist die Studentin, die sich jedem Dozenten sofort vorstellt: „Ich habe immer gleich darauf hingewiesen, dass ich nicht lesen kann, was angeschrieben wird, dass es mir jemand vorlesen muss. Dass man die Vorlesung barrierefrei machen muss.“ Sie fragt in der Bibliothek nach Büchern in Brailleschrift, lässt sich andere von einem PC-Programm vorlesen. Nicht immer sei sie auf perfekte Bedingungen gestoßen, aber immer auf guten Willen.
„Die größte Hürde ist überall das Ansprechen“, sagt die junge Sozialarbeiterin. Das gelte für die Uni wie für den Supermarkt. Auch was Ämter, Krankenkassen und andere Stellen angeht, weiß die 25-Jährige, welche Fragen man stellen muss. Und als Beraterin der EUTB sorgt sie dafür, dass ihre Klienten auch hilfreiche Antworten bekommen: zu Mobilitätstraining, Fahrdienst, zu Hilfsmittel-Anträgen, betreutem Wohnen oder dem Umbau eines Autos.
Wie zermürbend es ist, wenn man sich alleine mit solchen Fragen quält, hat Roksteins Kollegin Christina Müller 2016 erlebt: „Ich hatte einen Rückenmarksinfarkt, war plötzlich hals-abwärts gelähmt.“ Sie ist damals 24 Jahre alt, schreibt ihre Bachelorarbeit und muss sich von einem Tag auf den anderen um Therapien und Reha kümmern, mit Kostenträgern streiten. „Das trifft einen auch persönlich; man muss ja erstmal mit der Krankheit klarkommen.“
Die Beraterinnen räumen Barrieren aus dem Weg
Die Heilpädagogin hätte sich damals eine Anlaufstelle wie die im April 2018 gegründete EUTB gewünscht. Dass sie nun selbst hier als Beraterin arbeitet, ist nur schlüssig. Sie weiß, wie sich ihre Klienten fühlen, „was ihnen zusteht – und wie man sie aufbaut“. Gerade begleitet sie mehrere Klienten, die aus dem Pflegeheim in eine eigene Wohnung ziehen wollen.
Schließlich sei es erklärtes Ziel der EUTB, den Ratsuchenden nicht nur beiseite zu stehen, sondern sie zu bestärken, ergänzt Astrid Jakobs. „Wir gehen den ersten Schritt mit unseren Klienten, stoßen etwas an, damit sie selbstständig werden.“ Sie und ihre Kolleginnen beraten auch Angehörige sowie Institutionen und Behörden. Gleichzeitig tauschen sie sich mit Selbsthilfevereinen, Krankenkassen oder anderen Kostenträgern aus. „Wer finanziert das?“, sei eine Kernfrage für viele Klienten, sagt Beraterin Meike Gormanns. Im besten Fall können sie und ihre Kolleginnen das klären und helfen zu einem Leben ohne Barrieren – vom Kitabesuch über den Arbeitsplatz bis zur Seniorenwohnung.