Essen-Rüttenscheid. Das Projekt „Helmholtz Revisited“ des Essener Helmholtz-Gymnasiums stellt NS-Opfer und -Täter nebeneinander. Was die Schüler herausfanden.

Beide waren sie „Helmholtzer“. Kurt Stiefel und Otto Dietrich besuchten die 1864 gegründete Schule. Stiefel war einer der letzten Juden, die hier noch ihr Abitur ablegen durften, wurde im August 1944 nach Auschwitz gebracht und dort vermutlich ermordet. Dietrich war überzeugter Nationalsozialist, galt als rechte Hand Hitlers. Der eine Opfer, der andere Täter. Die Ausstellung „Helmholtz Revisited“ deckt dunkle Zeiten der Schule im Faschismus auf. Ein exemplarisches Nebeneinander von Tätern, Mitläufern und Opfern soll das Bewusstsein schärfen.

Die Lehrer Semir Badrani und Fritz Blanke haben mit Oberstufenschülern ein Projekt erarbeitet, bei dem der Holocaust im Mittelpunkt steht. Eine Zeitreise, die schaudern lässt. Aufhänger war das Aufspüren von Lebenslinien ehemaliger Schüler des Helmholtz-Realgymnasiums, damals noch an der Heinickestraße beheimatet und im Krieg zerstört. Auf acht über zwei Meter hohen Bannern erfährt der Betrachter zum Beispiel von Ernst Ellson und Max Rosenberger, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens und ihrer Homosexualität deportiert und ermordet wurden. Auch sie waren Opfer.

Rüttenscheider Helmholtz-Gymnasium galt zunächst als liberal

Die Ausstellung lehrt, dass zu Zeiten der Weimarer Republik der Anteil jüdischer Schüler überdurchschnittlich hoch war. Das Helmholtz-Gymnasium galt für die damalige Zeit als sehr liberal. Doch mit der Machtergreifung änderte sich alles, wie Schüler Matthias Wenzel erfuhr: „Das Helmholtz hat sofort mitgemacht. Eine der ersten Schulen, die Bücher jüdischer Autoren verbrannte. Selbst extrem patriotische Juden waren plötzlich nicht mehr Teil der Gesellschaft. Sie galten nicht einmal mehr als Menschen.“

Elisabeth Schirlitz, Matthias Wenzel und Maximilian Vater (linke Seite, v.l.) haben mit Unterstützung ihrer Lehrer Semir Badrani und Fritz Blanke (rechte Seite, v.l.) zur Schulgeschichte geforscht.
Elisabeth Schirlitz, Matthias Wenzel und Maximilian Vater (linke Seite, v.l.) haben mit Unterstützung ihrer Lehrer Semir Badrani und Fritz Blanke (rechte Seite, v.l.) zur Schulgeschichte geforscht. © Daniel HenschkE

Die Schule habe ein unselige Tradition national eingestellter Schulleiter erlebt: „Das wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebrochen“. Der 18-Jährige betont, dass ihn die Ergebnisse seiner Recherchen zur Schule und zu Kurt Stiefel nicht wirklich überrascht hätten. Er fühle sich nur umso mehr bestärkt: „Vielfalt und Demokratie darf man nicht nur erwarten, man muss selber etwas dafür geben.“

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Essener Schüler setzte sich mit Nazi-Kriegsverbrecher auseinander

Maximilian Vater aus Essen hat sich mit dem ehemaligen Helmholtz-Schüler und Reichspressechef Otto Dietrich auseinandergesetzt.
Maximilian Vater aus Essen hat sich mit dem ehemaligen Helmholtz-Schüler und Reichspressechef Otto Dietrich auseinandergesetzt. © Daniel Henschke

Der 18-Jährige Maximilian Vater hat sich mit Otto Dietrich auseinandergesetzt. Der Journalist wurde 1934 zum Reichspressechef der NSDAP ernannt. Dietrich wurde zwar 1949 als Kriegsverbrecher zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits ein Jahr später begnadigt. Für Maximilian Vater unfassbar, wie solch ein Mensch sich durchmogelte: „Er war Hitlers Propaganda-Mann und wollte sich im Nachhinein legitimieren. Grauenvoll.“

Seine halbjährige Recherche habe in ihm widersprüchliche Gefühle erweckt: „Ich wollte detailliert und wahrheitsgetreu informieren. Aber diese Nähe zu einem Täter war kaum zu ertragen. Es wurde überdeutlich, dass all‘ dies nicht im luftleeren Raum geschah, sondern dass es direkt nebenan passierte.“

Die Recherchen wurden unterstützt von Wolfgang Berude und dem Stadtarchiv Essen/Haus der Essener Geschichte. Elisabeth Schirlitz und Maili Schube waren für eine grundlegende Einordnung der Schulgeschichte in der NS-Zeit und einen informativen Zeitstrahl verantwortlich. Die 18-jährige Elisabeth Schirlitz betont, sie sei gut informiert gewesen, die Zeit stehe im Lehrplan: „Doch dann haben wir uns intensiver mit den spezifischen Schicksalen beschäftigt.“ Da habe sie durchaus eine Bedrücktheit gespürt, die aber irgendwann Sachlichkeit gewichen sei.

Essener Lehrer erinnert sich: Lange keine Aufarbeitung der Nazi-Zeit

Ausstellung geht auf Wanderschaft

Nach ihrer Präsentation im Helmholtz-Gymnasium geht die Ausstellung auf Wanderschaft. Am Donnerstag, 30. Juni, ist um 17 Uhr Eröffnung im Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv am Ernst-Schmidt-Platz 1. Die Ausstellung wird dort bis zum 6. August gezeigt.

Wolfgang Berude wird am Donnerstag, 4. August, 18 Uhr, durch die beiden Ausstellungen „Come out, Essen!“ und „Aus Geschichte lernen - Essener Helmholtz-Gymnasium - Revisited!“ führen. Voraussichtlich ab November wird die Ausstellung dann in der Alten Synagoge zu sehen sein.

Für die 17-jährige Maili Schube kam die Motivation mit der Recherche: „Wir hatten mit der geplanten Präsentation ein konkretes Ziel vor Augen. Aber das Aufarbeiten war schon krass.“ Für Bürgermeister Rolf Fliß sind die Schüler „Stadt-Patrioten“, weil sie sich mit dunklen Zeiten der Essener Stadtgeschichte auseinandergesetzt haben: „Damit nichts unter den Teppich gekehrt werden kann.“ Die Ausstellung solle auch im Rathausfoyer gezeigt werden.

Lehrer Fritz Blanke war selbst Schüler am Helmholtz der 1960er-Jahre: „Drastische Erziehungsmaßnahmen machten nicht vor körperlicher Gewalt halt. Von einer Aufarbeitung der Nazi-Gräuel keine Spur.“ Was Schulleiterin Nadine Lietzke-Schwerm daran erinnerte, dass sie in der sechsten Klasse vom Schicksal der Juden im Nationalsozialismus erfuhr: „Ich war schockiert und überfordert.“ Die Großeltern seien aber ihren Fragen ausgewichen. Geschichtslehrer Semir Badrani hat viel Freizeit und Herzblut in das Projekt investiert: „Wir wollten verdeutlichen, was es bedeutet, wenn Vielfalt, Respekt und Toleranz einer menschenverachtenden Ideologie geopfert werden.“