Essen. Wo der Handel Leerstände hinterlässt, sollen neue Lokale entstehen. Wie Kultur und Gastronomie das Image der Essener Innenstadt verändern können.
„Kommste inne Stadt, wat macht dich da satt – ne Currywurst“, wusste schon Pott-Kenner Herbert Grönemeyer. Doch der Erlebnishunger der nahrungssuchenden Großstädter ist gestiegen. Statt der bewährten Currywurst darf es mittlerweile auch mal ein veganes Curry sein oder zumindest Fritten mit exotischem Topping. Abwechslung auf dem Teller ist angesagt und in den sozialen Medien finden neue gastronomische Adressen inzwischen mehr Interesse als aktuelle Modetrends. „Essen ist das neue Shoppen“ lautet die Losung. Und weil der stationäre Handel ohnehin immer weiter auf dem Rückzug ist und der coronabedingte Online-Boom die Leerstände in der City bedrohlich vorangetrieben hat, will die Essen Marketing GmbH (EMG) mit der weiteren Ansiedlung von Kneipen und Restaurants in der Innenstadt gegensteuern.
Schon im März vergangenen Jahres hat der Rat die Verwaltung und EMG beauftragt, Konzepte und Strategien zu entwickeln, die trotz Corona-Einschränkungen zur Belebung der Innenstadt und Stadtteile beitragen sollen. Das mit Hilfe eines externen Projektentwicklers in Auftrag gegebene Konzept sollte eigentlich schon vor Weihnachten beraten werden, verspätet sich aber. EMG-Chef Richard Röhrhoff kündigt das Papier nun für Anfang des Jahres an, danach geht es in die politische Beratung. 35.000 Euro hatte der Rat der Stadt 2021 dafür freigegeben. Die EMG hat diese Summe nach eigenen Angaben auf einen „mittleren fünfstelligen Betrag“ aufgestockt. Das Papier solle helfen, „die richtigen Orte für die richtigen Nutzer zu finden“ und Gastronomen zu überzeugen, sich auf Essens City einzulassen, hat Röhrhoff im vergangenen Jahr erklärt. Vielen schien die Sache eilig.
„Man kann nicht einfach aus einem Laden einen Gastronomiebetrieb machen“
Doch Fast und Food, dieses Begriffspaar findet bei der Ansiedlung neuer Cafés und Lokale nicht automatisch zueinander. „Man kann nicht einfach aus einem Laden einen Gastronomiebetrieb machen“, gibt EMG-Chef Richard Röhrhoff zu bedenken. Dabei ginge es ja nicht nur um den Einbau von Lüftungen oder Fettabscheidern, sondern manchmal auch um grundsätzliche baurechtliche Fragen. Auch bei den Vermietern der Innenstadtimmobilien, die lange Zeit satte Mieten großer Textil-Ketten gewohnt waren, müsse man erst einmal für die konzeptionelle Neuausrichtung werben.
Dazu käme die „Schockstarre“ vieler Gastronomen nach inzwischen mehrjähriger Corona-Durststrecke. Viele würden mittlerweile ums nackte Überleben kämpfen. Den Mut, mit einem neuen Konzept anzutreten, müsse man in diesen Zeiten erst einmal aufbringen, weiß Röhrhoff.
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Einer, der es gewagt hat, ist Junggastronom Valentin Santos, der das „RoseMarie“ am Burgplatz im vergangenen Spätsommer eröffnet hat. Für viele ist der Laden mit dem blumigen Garten-Interieur und der trendigen Inneneinrichtung ein gutes Beispiel dafür, wie man Essen auch als Erlebnis verkaufen kann. Längst ist das „RoseMarie“ mit seinem Einrichtungsmix zwischen heimelig und international beliebtes Fotomotiv und Teil zahlreicher Instagram-Stories. Santos selbst nennt es eine „Wohlfühloase“ und die kommt nicht nur in den sozialen Medien gut an.
Santos bringt freilich familiären Rückhalt mit. Dass sein Vater Alexander Brambrink mehrere Systemgastronomien in der Stadt betreibt, dürfte den Start erleichtert haben. Mit dem „RoseMarie“ habe man sich nun bewusst „in eine andere Richtung bewegt“, sagt Santos. In die Konzeption wurde einiges an Zeit gesteckt und auch ein Innenarchitektur-Büro hinzugezogen. Ein Aufwand, den nicht jeder betreiben kann. Zumal die Mieterwartungen vieler Immobilienbesitzer immer noch so hoch liegen dürften, dass die gemütlichen Cafés und originellen Restaurants, wie mancher sie sich erhofft und in anderen Städten wertschätzt, kaum finanzierbar erscheinen.
Auf dem Kennedyplatz wird weiter „Mainstream herrschen“
Der Kennedyplatz werde gastronomisch weiter „Mainstream bleiben“, glaubt deshalb auch Richard Röhrhoff, Richtung Hauptbahnhof und Willy-Brandt-Platz, „da wird’s spannend, da merken wir, dass Interesse da ist“. Auch in der Nordcity sieht Röhrhoff noch einiges gastronomisches Potenzial. In den Seitenstraßen abseits der Haupteinkaufsrouten könne dank der eher niedrigeren Mieten „ein Experimentierraum“ entstehen.
Von gastronomischen Experimenten ist man zwischen Limbecker Straße und Kennedyplatz ansonsten weit entfernt. Wie bei den großen Handelsketten überwiegt in der City auch das Immergleiche der Systemgastronomie: Ein „Extrablatt“ für jede Stadt. Und auch die „L’Osteria“ oder „Hans im Glück“ sind zwischen München und Berlin mittlerweile vertraute Namen.
Individuelle, inhabergeführte Läden haben es da schwer und sind aus dem Stadtbild nahezu verschwunden – vom einst legendären Café Overbeck bis zum Theatercafé im Grillo-Theater, wo man sich früher zum ausgedehnten Kaffeetrinken, Klönen und Zeitunglesen niederließ.
Das Stratmanns-Theater profitiert von der dazugehörigen Gastronomie
Dass eine gut funktionierende Gastronomie fürs Theater nicht nur hilfreich, sondern existenziell ist, daran glaubt Philipp Stratmann. Das Stratmanns im Europahaus hält sich als eines der wenigen inhabergeführten Gastro-Betriebe in der City seit Jahrzehnten. Im kleinen Theater am Kennedyplatz hat bis zu seinem Tod im vergangenen August der bundesweit bekannte Medizin-Kabarettist Doktor Ludger Stratmann praktiziert. Das Programm des Privattheaters ist mittlerweile breit aufgestellt.
So „zeitlos“ wie das Theaterangebot ist auch die Stratmanns-Gastronomie. Die Besucher des Seniorenkinos in der Lichtburg kommen ebenso zu Kaffee und Kuchen wie hungrige Nachtschwärmer, die nach 22 Uhr sonst kaum noch Chance haben, in der City etwas Essbares zu finden. „Dass wir nicht früh zumachen, hat sich sehr bewährt“, erzählt Philipp Stratmann. Das Verlässliche und Familiäre gehöre eben zum Erfolgsrezept.
Für viele Theaterbesucher runde ein Essen vor der Vorstellung, ein Glas Wein danach das Abenderlebnis ab, sagt Stratmann. Doch auch die umliegenden Gastronomien profitieren seiner Ansicht nach vom Innenstadt-Theater. Mitte der 1990er war man auf dem Kennedyplatz noch die ziemlich einzige Gastro-Adresse. Die Sorge, unter der Konkurrenz zu leiden, habe sich nicht bewahrheitet. Viele Angebote könnten hier nebeneinander existieren, hat Stratmann festgestellt.
Dass ein breites Angebot von Kultur mit Kino, Theater, einem Varieté wie dem GOP und generell mehr Events und Aufenthaltsqualität dem verblassenden Ruhm von Essen als „die Einkaufsstadt“ etwas entgegensetzen kann, hat schon eine 2019 veröffentlichte Markenkernanalyse des Rheingold-Instituts im Auftrag der EMG ergeben. „Die Einkaufsstadt hat Profil und Einzigartigkeit verloren“ heißt es da. Chancen attestiert man dafür einer Innenstadt, „die Gastlichkeit signalisiere und die man auch jenseits von Shopping gerne aufsucht“. Eine Stadt also, die neben Currywurst noch manches andere auf der Karte hat.