Essen. Das Kopf-an-Kopf-Rennen im Mitte-Süd-Wahlkreis machte die Bundestagswahl erneut spannend. Doch auch die Sieger haben nicht nur Grund zu jubeln.

Diese Bundestagswahl in Essen, sie mag so manchen an den Rand der Verzweiflung getrieben haben, ganz sicher aber den Wahlvorstand im Bredeneyer Stimmbezirk 2603: Geschlagene sechs Stunden brauchte dieser, um das Ergebnis einer durchaus überschaubaren Zahl von 717 Stimmzetteln festzustellen, und als mit diesen letzten Zahlen auch das vorläufige amtliche Endergebnis auf der städtischen Internetseite aufploppte, schlug die Turmuhr 0.15 Uhr. Rekord.

Was schief lief? Achselzuckendes Bedauern im Wahlamt der Stadt, dem das Personal fehlt, um noch nächtens ein Einsatzkommando als Zählhilfe zu schicken, immerhin haben vor Ort ja auch die Wahlvorstände das Sagen; irgendwas ist eben immer. In Bredeney habe man sich wohl buchstäblich „verzettelt“, mutmaßt Guido Mackowiak vom Wahlamt, und wenn zu vorgerückter Stunde der Druck steigt und damit auch die Nervosität, kann offenbar auch eine Grundrechenart zahlenmäßige Verstrickungen auslösen.

SPD

Womit man bei den Essener Ergebnissen dieses Wahlabends wäre: Sie bringen Sieger und Besiegte hervor, und mitunter stehen diese auch auf ein und derselben Seite – wie bei Gereon Wolters, dem Kandidaten der Genossen im Mitte-Süd-Wahlkreis. Wochen-, ach was: monatelang hatte dieser freudig den wachsenden Zuspruch für die SPD registriert und am Ende, bescheinigt von gleich mehreren Mandatsrechnern im Netz, den Direktsieg im Wahlkreis vor Augen.

Sein Traum vom Einzug in den Bundestag ist zum zweiten Mal geplatzt: Als Gereon Wolters am Wahlabend die Niederlage kommen sah, wirkte er wie entrückt.
Sein Traum vom Einzug in den Bundestag ist zum zweiten Mal geplatzt: Als Gereon Wolters am Wahlabend die Niederlage kommen sah, wirkte er wie entrückt. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Doch wie schon vor vier Jahren musste sich der Jura-Professor zu später Stunde Matthias Hauer von der CDU geschlagen geben, 1023 Stimmen fehlten dann doch zum Sieg. Und während Wolters mangels Absicherung auf der NRW-Landesliste gedankenverloren ins politische Nichts starrte, feierten neben ihm die Genossen in der SPD-Zentrale an der Severinstraße die stadtweite Wiederauferstehung der Sozis: 31 Prozent.

Das ist ein wenn auch bescheidenes Plus von 2,8 Prozent zu 2017, als wichtiger aber dürfte gelten, dass man sich in einigen Stadtteilen behutsam wieder in alte Höhen vorrobbt – vorneweg in Vogelheim (41,7 %) und Karnap (40,1 %). In immerhin 36 der 50 Essener Stadtteile wurde die SPD zudem am Ende stärkste Kraft.

CDU

Die Christdemokraten dagegen mussten an diesem Sonntag ganz ganz tapfer sein. Sie eroberten zwar erneut den Mitte-Süd-Wahlkreis und errichteten damit das einzige schwarze Bollwerk im ansonsten roten Revier. Doch zu verdanken hat Matthias Hauer seinen Sieg dort wohl allein den großzügig herübergereichten Erststimmen vor allem der FDP-Wählerschar, deren Ergebnis im Wahlkreis gut 7000 mehr Zweit- als Erststimmen ausweist.

Für die CDU ist am Wahlabend so mancher Polit-Traum geplatzt, Matthias Hauer aber hat in der großen Niederlage dennoch einen Sieg eingefahren: Er holte den Mitte-Süd-Wahlkreis direkt – zum dritten Mal hintereinander.
Für die CDU ist am Wahlabend so mancher Polit-Traum geplatzt, Matthias Hauer aber hat in der großen Niederlage dennoch einen Sieg eingefahren: Er holte den Mitte-Süd-Wahlkreis direkt – zum dritten Mal hintereinander. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Stadtweit kam die CDU, die zur Kommunalwahl vor einem Jahr noch überall großzügig abgeräumt hatte, auf gerade noch 22,7 Prozent, ein Minus von 4,6 Prozentpunkten verglichen mit 2017. Nur in 11 der 50 Stadtteile, allesamt im Süden, lag sie beim Ergebnis vor der SPD, gar nur in sechs Stadtteilen mit Zahlen jenseits der 30-Prozent-Marke.

Grüne

Großer Gewinner des Wahlabends waren fraglos die Grünen, die stadtweit über 50.000 Zweitstimmen einsammelten und mit 16,7 Prozent ihr Ergebnis von vor vier Jahren mehr als verdoppeln konnten. Dass mancher dennoch nicht 100-prozentig zufrieden war, lag wohl allein an den hochgeschraubten Erwartungen – mit eigener Kanzlerkandidatin und Umfragen, die der Partei zeitweise sogar Platz 1 zutrauten.

Deutlich wird, dass die Grünen in einigen Stadtteilen längst verlässlich Volkspartei-Größe erreichen: In sieben von 50 Stadtteilen heimsten sie 20 Prozent der Stimmen und mehr ein, wurden dreimal sogar stärkste Kraft – im Südviertel (30,7 %), in Rüttenscheid (29,0 %) und im Stadtkern (25,8 %). Eher dürftig fällt das Ergebnis vor allem im Norden aus, insgesamt blieb das Ergebnis in 12 von 50 Stadtteilen einstellig.

An ihnen kommt keiner mehr vorbei: Die Grünen in Essen, hier die Bundestags-Kandidaten Kai Gehring und Christine Müller-Hechfellner, schließen mancherorts zahlenmäßig zu den Volksparteien auf.
An ihnen kommt keiner mehr vorbei: Die Grünen in Essen, hier die Bundestags-Kandidaten Kai Gehring und Christine Müller-Hechfellner, schließen mancherorts zahlenmäßig zu den Volksparteien auf. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Und auch ein Direktmandat für den Bundestag scheint für die hiesigen Grünen noch in weiter Ferne zu liegen, obwohl der langjährige Bundestagsabgeordnete Kai Gehring im Mitte-Süd-Wahlkreis auf beachtliche 19 Prozent der Erststimmen kam, ein Plus von über zehn Prozentpunkten. Gehring zieht immerhin über die Liste ins Parlament, seine Parteifreundin Franziska Krumwiede-Steiner dagegen scheiterte im Essen-Mülheimer Wahlkreis knapp: Die Liste zog bis Platz 28, sie rangiert auf 29.

FDP

Knapp zweistellig rangiert auch die FDP, die mit stadtweit 10,6 Prozent der Stimmen allerdings hinter ihrem Essener Ergebnis von vor vier Jahren zurückblieb. Bemerkenswert: Im Nord-Ost-Wahlkreis wie auch im gemeinsam mit Mülheim gebildeten Wahlkreis, wo für die Liberalen ohnehin meist kein Blumentopf zu gewinnen ist, legten die Liberalen sogar minimal zu.

In Mitte-Süd dagegen büßten sie bei den Zweitstimmen beachtliche 3,3 Prozentpunkte ein, obwohl der Süden sich nach wie vor als einträgliches FDP-Stammland erweist: Bredeney (18,9 %) und Schuir (16,0 %), Heidhausen (15,0 %), Kettwig (14,8 %) und Heisingen (14,1 %) stechen dabei heraus – und einmal mehr der Umstand, dass die Zahl der Zweitstimmen im umkämpften Süden um mehr als 7000 über jener der Erstimmen liegt.

Königs-Macher zu sein, diese Rolle fällt bundesweit womöglich der FDP zu. Der Essener Parteichef Ralf Witzel freut sich drauf, das Plakat im Hintergrund aber gilt dem liberalen Kandidaten im Mitte-Süd-Wahlkreis Rüdiger König.
Königs-Macher zu sein, diese Rolle fällt bundesweit womöglich der FDP zu. Der Essener Parteichef Ralf Witzel freut sich drauf, das Plakat im Hintergrund aber gilt dem liberalen Kandidaten im Mitte-Süd-Wahlkreis Rüdiger König. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

AfD

Im Gegensatz zu allen anderen größeren Parteien veranstaltete die „Alternative für Deutschland“ in Essen am Sonntagabend keine offizielle Wahlparty. Man ersparte sich damit fraglos einige lange Gesichter, denn die AfD verlor verglichen mit der Bundestagswahl 2017 nahezu jede dritte Stimme in der Stadt und sackte auf 8,3 Prozent ab. Gleichwohl reichte es in 19 der 50 Stadtteile noch für ein zweistelliges Ergebnis, allen voran in Vogelheim (16,0 %), Karnap (15,1 %) und Bergeborbeck (14,3 %).

Ausgesprochen schwach zeigte sich die AfD im äußersten Süden der Stadt, kam in neun Stadtteilen nicht einmal über fünf Prozent und kletterte im gesamten Mitte-Süd-Wahlkreis auf gerade einmal 5,5 Prozent. Der dortige Bundestagskandidat Stefan Keuter schaffte dennoch den Sprung in den Deutschen Bundestag, sein Listenplatz 12 war der letzte erfolgreiche für die NRW-AfD.

Linke

Wenn man „Panoptikum“ als „Wunderkammer“ übersetzt, dann waren die Linken in der gleichnamigen Traditions-Gaststätte an der Gerlingstraße absolut fehl am Platz. Auf ein Stimmen-Wunder wartete die in Teilen zerstrittene Partei an diesem Wahlabend jedenfalls vergeblich: Stadtweit nur 4,0 Prozent – das bedeutete mehr als eine Halbierung des Ergebnisses von 2017 und war bei weitem zu wenig, um den auf Platz 11 und 12 der NRW-Landesliste abgesicherten Kandidaten Ezgi Güyildar und Shoan Vaisi den Weg ins Parlament zu ebnen.

Nur in 10 der 50 Stadtteilen lag die Linke am Ende über fünf Prozent, die rekordverdächtigen 9,6 Prozent im Stadtkern fielen schon deshalb kaum ins Gewicht, weil dort nicht einmal 1800 der 408.000 Essener Wahlberechtigten leben. Das magerste Ergebnis fiel – wen wundert’s – in Bredeney und Schuir an: Hier kam die Linke auf jeweils 1,7 Prozent.

Das erhoffte Wunder blieb aus, die Linken (von links) Wolfgang Freye, Jules El-Khatib, Gabriele Giesecke, Shoan Vaisi, und Ezgi Güyildar hatten in der Traditionskneipe „Panoptikum“ nichts zu feiern.
Das erhoffte Wunder blieb aus, die Linken (von links) Wolfgang Freye, Jules El-Khatib, Gabriele Giesecke, Shoan Vaisi, und Ezgi Güyildar hatten in der Traditionskneipe „Panoptikum“ nichts zu feiern. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Wahlbeteiligung

Ein leichtes Plus verzeichnet Essen bei der Wahlbeteiligung: Von den gut 408.000 Wahlberechtigten machten letztlich 74,4 Prozent ihre Kreuzchen, ein minimales Plus von 0,4 Prozentpunkten verglichen mit der Bundestagswahl vor vier Jahren.

Am geringsten fiel die Beteiligung in drei Stadtteilen mit einem Wähler-Anteil unter 60 Prozent aus: das Ostviertel (57,2 %) zählt dazu, Altendorf (57,8 %) und das Nordviertel (58,6 %). Am anderen Ende der Skala rangiert der Süden: In 19 der 50 Stadtteile lag die Beteiligung über 80 Prozent, Spitzenreiter war dabei Bredeney mit 88,3 Prozent. Die wollen ausgezählt sein.

Im Zweifel bis Mitternacht.