Essen. Die 1991 begründete Städtepartnerschaft von Essen und Tel Aviv drohte einzuschlafen. Warum die Essener für die Israelis heute zur Familie gehören
Lange Zeit bestand die Partnerschaft vor allem auf dem Papier, doch seit einigen Jahren ist sie wieder mit Begegnung und Leben gefüllt: Wenn man in Essen am Montag, 14. Juni 2021, auf die Geburtsstunde der Städtepartnerschaft mit dem israelischen Tel Aviv vor 30 Jahren zurückblickt, darf man also von einem geglückten Projekt berichten.
Lange Zeit verloren sich die Partnerstädte aus den Augen
Begründet wurde es im Juni 1991 vom inzwischen verstorbenen Bürgermeister von Tel Aviv Shlomo Lahat und von der damaligen Essener Oberbürgermeisterin Annette Jäger. Sie hatte als junge Frau an einem Austausch mit dem britischen Sunderland teilgenommen und dort wenige Jahre nach Kriegsende eine überraschende Warmherzigkeit erlebt. Auch die ungleich belasteteren deutsch-israelischen Beziehungen durch lokale Initiativen, persönlichen Austausch junger Menschen zu stärken, war Jäger ein Anliegen.
Und doch verloren sich die Städte und die Menschen in den Folgejahren aus den Augen, was auch daran gelegen haben mag, dass Tel Aviv auch mit den deutschen Städten Bonn, Köln und Frankfurt verpartnert ist. Vor gut zehn Jahren brachte sich die Ruhrgebietsstadt wieder in Erinnerung, lud erst eine israelische Delegation zum Kulturhauptstadt-Jahr 2010 ein, sandte dann Rathaus-Mitarbeiter zum Praktikum in die Stadtverwaltung der Metropole am Mittelmeer. Als Katalysator machte sich der 2011 gegründete „Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft zwischen den Städten Essen und Tel Aviv“ verdient.
Im Jahr 2012 reiste eine zehnköpfige städtische Delegation um den damaligen Oberbürgermeister Reinhard Paß nach Tel Aviv-Yafo – und wurde herzlich empfangen. Die Gäste lernten eine Stadt kennen, die nicht nur wirtschaftliches und kulturelles Zentrum Israels ist, sondern durch ihre Weltläufigkeit und Schlaflosigkeit besticht: Auf 220 Einwohner komme eine Bar, weshalb man auch von Nonstop-City spreche, verriet Bürgermeister Ron Huldai den Gästen aus Deutschland. Die bekamen alte Synagogen und neue Radwege zu sehen, die besagten Bars und die Bauhaus-Siedlung – Weltkulturerbe wie Zeche Zollverein in Essen. Es gab ein Gala-Diner und viele Gespräche, eine Nacht im Museum und eine bewegende Begegnung mit einem Holocaust-Überlebenden mit Essener Wurzeln.
Als folgenreich erwies sich der Besuch der Bialik-Rogozin-School. Die hat eine multikulturelle Schülerschaft und steht sogar Kindern offen, deren Eltern sich illegal im Land befinden. Der Dokumentarfilm „Strangers No More“ zeigt, wie zugewandt und nimmermüde sich die Lehrer dort um die Kinder kümmern, die ihre Heimat verloren haben. Ein Lehrer erklärte den Gästen den Rund-um-die-Uhr-Einsatz mit der schlichten Formel: „Ein Zuhause schließt nicht.“
Die Schulen sehen sich als Zwillinge
Zurück in Essen fand sich das Unesco-Aufbau-Gymnasium im Film und den Schilderungen über die Bialik-Rogozin-School wieder: Auch die Schule im Südostviertel wird von Schülern aus 44 Ländern besucht, viele leben nur als Geduldete in der Stadt. Engagierte Lehrer und Lehrerinnen suchten den Kontakt zu der israelischen Schule und entdeckten in ihr „einen Zwilling, der sich zufällig in einem anderen Land befindet“, wie die Schulleiterin formulierte. Die Freundschaft der Schulen hat sich zu einem Herzstück der Städtepartnerschaft entwickelt.
Die Kontakte sind heute vielfältig, werden auch von der Jüdischen Kultusgemeinde Essen und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gepflegt. Als Essens Brückenbauer nach Tel Aviv hat sich immer wieder Uri Kaufmann bewährt: Der Leiter der Alten Synagoge hat zusammen mit der Volkshochschule viele Studienreisen nach Israel organisiert; 2022 soll es wieder eine geben.
Schon beim Besuch der Essener Delegation 2012 lotste Kaufmann kenntnisreich durch die Stadt, durch Landes- und Religionsgeschichte. Mit den Worten „Unsere Familie ist größer geworden“ wurden die Essener damals verabschiedet. Zehn Jahre später hat Oberbürgermeister Thomas Kufen angesichts von antisemitischen Ausfällen eine Stadtfahne von Tel Aviv bestellt: Er wolle ein Zeichen setzen und sie zum 30-Jährigen Bestehen der Städtepartnerschaft hissen.