Essen. Das Gute liegt so nah: Das Zollverein-Gelände lädt ein zu einem kurzweiligen Osterspaziergang. So zeigt der Chef Besuchern sein Zollverein.

Wenn Hans-Peter Noll vom Schreibtisch durchs Fenster schaut, fängt er an zu schwärmen: „Vorne die Magnolie in voller Blüte, dahinter die beiden Gründerschächte – ein faszinierender Anblick.“ Von hier brechen wir auf zu einer sehr persönlichen Zollverein-Tour. „Meine Tour“ nennt der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Zollverein den Spaziergang, mit dem er besonders auswärtige Premieren-Besucher fürs Welterbe begeistern möchte.

Zollverein ist Leuchtturm des Ruhrgebiets und Besuchermagnet, ein Standort für Kultur, Wissenschaft, Design und Wirtschaft. Der 62-Jährige kann seinen Stolz über das seit der Stilllegung 1986 Erreichte nicht verbergen. Es ist eine Mischung aus Heimat- und Besitzerstolz, die ansteckt. Selbst Einheimische entdecken bei der „Noll-Tour“ unbekannte Seiten und neue Blickwinkel.

Warum sich sogar Brautpaare aus Süddeutschland auf Zollverein das Ja-Wort geben

Neuen Besuchern zeigt Zollverein-Chef Hans-Peter Noll auf einer sehr persönlichen Tour.
Neuen Besuchern zeigt Zollverein-Chef Hans-Peter Noll auf einer sehr persönlichen Tour. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Am Design-Hotel „Friends“ präsentiert er das neue Zollverein. Die Hochschule der Künste fügt sich mit ihrer Fassade aus feuerverzinktem Stahl und Glas perfekt ein in das vorhandene Ensemble mit der von Fritz Schupp und Martin Kremmer geprägten „Neuen Sachlichkeit“. Auf der großen Freifläche davor soll ein weiteres Highlight entstehen: das neue Bundesinstitut für Fotografie.

Seitdem das Welterbe über ein eigenes Trauzimmer verfügt, träten hier sogar Paare aus Süddeutschland vor den Standesbeamten. „Sie wollen sich das Ja-Wort dort geben, wo ihre Väter oder Großväter unter Tage gearbeitet haben.“

An der aufwendig restaurierten und gut angenommenen „Kinderzeche“ fällt der Blick auf den so genannten Mannschaftsgang. Von der alten Wasch-Kaue (jetzt Tanztheater PACT) führte der auf drei Meter hohe Stahlstützen gelegte Gang die Kumpel einst direkt zum Schacht XII.

Erinnerungsfotos gelingen auf dem drei Meter hohen „Mannschaftsgang“

Kirschblüten auf dem Gelände der „Keramischen Werkstatt Margaretenhöhe“ verschönern den Blick auf die Schächte I/II, die Geburtsstätte der Zeche.
Kirschblüten auf dem Gelände der „Keramischen Werkstatt Margaretenhöhe“ verschönern den Blick auf die Schächte I/II, die Geburtsstätte der Zeche. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Zollverein-Besucher, die den idealen Standort fürs Erinnerungsfoto suchen, sind auf dem Mannschaftsgang genau richtig. „Im Hintergrund erhebt sich der Doppelbock und vorne springt einem die Neue Sachlichkeit der alten Kohlenwäsche entgegen“, sagt Noll.

Mit dem Element Farbe sind Schupp/Kremmer bewusst sparsam umgegangen. Da sind der typische dunkle Ziegelstein, millionenfach verbaut, und die verwirrende Vielfalt an stählernen Stützen und Streben in Zollvereinrot. Was erst auf den zweiten Blick auffällt: Ausgetauschte und neue Stahlträger sind grau.

Ein kurzer Abstecher in die Historie: Als Zollverein-Gründer Franz Haniel vor rund 170 Jahren die Mergelschicht durchbrach, bestanden die Schachtgerüste noch aus Holz. „Später hatten wir hier Malakow-Türme und zuletzt das Fördergerüst aus Stahl.“

Objekt Nummer 46 ist unauffällig: Es war das Leichenhaus des Bergwerks

Erinnerung an harte und gefährliche Arbeit unter Tage: das frühere Leichenhaus mit der Nummer 46.
Erinnerung an harte und gefährliche Arbeit unter Tage: das frühere Leichenhaus mit der Nummer 46. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ein paar Schritte weiter machen wir kurz Halt vor Objekt Nummer 46, einem unauffälligen kleinen Backstein-Würfel. „Das war das Leichenhaus des Bergwerks.“ Ein Ort, der an die harte und gefährliche Maloche der Bergleute unter Tage erinnert.

Als Sohn eines Bergmanns ist Professor Dr. Hans-Peter Noll, ein Geograph, das Kumpel-Milieu bestens vertraut. „Ich bin in Datteln geboren und in Herne aufgewachsen, mein Vater wechselte von Emscher-Lippe zu den Zechen Hannibal, Konstantin, Mont Cenis und zuletzt General Blumenthal.“

Ebenfalls unauffällig ist die Efeu umrankte Einfahrt gegenüber vom Leichenhaus, auch das Schild „Keramische Werkstatt Margaretenhöhe (KWM)“ fällt kaum auf. „Ein Kleinod mitten auf Zollverein“, sagt Noll. In der alten Schreinerei am Fuße der üppig bewachsenen Halde taucht der Besucher in eine neue Welt ein. Eine praktische Regel: Steht die Einfahrt auf, kann das Gelände betreten werden. Besucher sind willkommen.

Die renommierte Künstlerin Young-Jae Lee schwärmt: „Als sei die Zeit stehen geblieben“

Die international renommierte Künstlerin Young-Jae Lee leitet die Keramische Werkstatt. Ihr Blick fällt auf die alten Schienen.
Die international renommierte Künstlerin Young-Jae Lee leitet die Keramische Werkstatt. Ihr Blick fällt auf die alten Schienen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Die international renommierte Künstlerin Young-Jae Lee, die auch Geschäftsführerin der KWM ist, schwärmt von diesem Ort, an dem sie seit 1987 wirkt. „Hier ist es, als sei die Zeit stehen geblieben.“ Sie zeigt auf die Kamelien, die beiden japanischen Kirschbäume, die gerade blühen, auf die Kletterhortensien und die im Boden liegenden Schienen. Wo einst geschreinert wurde, drehen sich heute Töpferscheiben. In den Brennöfen entstehen bei 1240 Grad Kunstwerke von Weltrang. „High End“, so Noll.

Kreative Atmosphäre: Shoko Ishioka bearbeitet Keramiken.
Kreative Atmosphäre: Shoko Ishioka bearbeitet Keramiken. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Nach dem Sanaa-Gebäude lassen wir das Red Dot Design-Museum links liegen und erreichen bald das Ruhr-Museum. Noll hat wieder Grund stolz zu sein: „Alle drei Gebäude tragen die Handschrift von Pritzker-Preisträgern.“ Der Pritzker-Preis gilt als Oscar der Architektur. Eine vergleichbare Pritzker-Dichte müsse man auf dem Planeten lange suchen.

„Doch an Blumen fehlt’s im Revier“, dichtete Goethe im berühmten Osterspaziergang. Auf der einstmals größten Schachtanlage der Welt kommt die Natur mit Macht wieder zurück. „Wir haben sogar eine eigene Brombeere, die Rubus Zollvereiniensis“, lächelt Noll.

Auf der grünen Seite: Seifenfirma Sapor setzt Akzente im Kamm-Gebäude

Der Doppelbock ist das Wahrzeichen der Zeche Zollverein und des Ruhrgebiets: Wenn sich die Seilscheiben drehen, befahren Bergleute gerade die Wasserhaltung in 1000 Meter Tiefe.
Der Doppelbock ist das Wahrzeichen der Zeche Zollverein und des Ruhrgebiets: Wenn sich die Seilscheiben drehen, befahren Bergleute gerade die Wasserhaltung in 1000 Meter Tiefe. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Jetzt rasch die Rolltreppe hinauf, eine der längsten in Deutschland. Im Ruhrmuseum laden die Ausstellungen „100 Jahre Ruhrgebiet“ und „Kindheit im Ruhrgebiet“ zum Besuch ein. Leider ist die Aussichtsplattform mit dem fantastischen Ruhrgebiets-Panoramablick geschlossen. Die drehenden Seilscheiben von Schacht XII verraten: Es findet gerade eine Befahrung statt hinab zur zentralen Wasserhaltung auf 1000 Meter Tiefe.

Museale Angebote von Zollverein haben geöffnet

Die aktuellen Corona-Vorschriften gestatten die Öffnung der musealen Angebote von Zollverein. Das Ruhr Museum, das Red Dot Design Museum sowie das Phänomania Erfahrungsfeld begrüßen aktuell Gäste.

Voraussetzung für einen Besuch ist ein tagesaktuelles negatives Schnelltestergebnis sowie ein Zeitfensterticket, heißt es auf der Homepage zollverein.de. Zollverein-Führungen finden hingegen nicht statt.

Von der Schupp-Allee aus überqueren wir die begrünte Halde und erreichen das Kamm-Gebäude auf dem Kokereigelände, wo sich Zollverein nach der schwarzen und weißen Seite nun auch von der grünen zeigt. Die Seifenfirma Sapor setzt auf nachhaltige Produkte – speziell an den Feiertagen gibt’s Pfiffiges: Seifenspender im Oster-Design.

Das begrünte Parkdeck der RAG ist ein Hingucker, daneben ragen die Kühlturmgerüste wie Skulpturen in den blauen Himmel. Die Rückseite der langen Koksofenbatterie schließt den kurzweiligen, bald zwei Stunden langen Rundgang (ohne Ausstellung) ab. In die Gesichter der meisten Besucher hat der Zollverein-Chef mit seiner Noll-Tour spätestens hier ein Staunen gezaubert. Sie gestehen, was Einheimische allerdings schon lange wissen und trotzdem erfreut: Dass sie Zollverein so herrlich grün finden.