Essen. Zu wenige Gebäude, Digitalisierung, Ganztag: Diese Themen hält Andreas Kalipke, neuer Chef des Schulausschusses, für die wichtigsten

Die Zahl der Schüler wächst, und die Stadt kommt kaum nach, genügend Räume zu schaffen: Über diese und andere Essener Schul-Themen äußert sich Andreas Kalipke, der neue Vorsitzende des Schulausschusses. 

Herr Kalipke, welche Themen sind für Sie als neuen Vorsitzenden des Ausschusses für Schule, Bildung und Wissenschaft diejenigen, die jetzt am meisten drängen?

Das sind die Schaffung von Schulraum, die Digitalisierung, der Ausbau des Ganztages und die soziale Balance.

Zum Thema Schulraum: Die Stadt baut jetzt kurzfristig wieder neue Container und Pavillons an den Grundschulen auf, weil die Kapazitäten nicht ausreichen. Niemand versteht: Warum kann die Stadt angesichts der Geburtenzahlen nicht so planen, dass sechs Jahre später alle i-Dötzchen ordentlich versorgt sind?

Die Stadt hat in kürzester Zeit Schulraum geschaffen, kommt aber nicht nach. Es ist zu lange der Fehler gemacht worden, dass immer nur reagiert, aber nicht proaktiv gehandelt wurde. Das hat sich erst 2014 geändert, seitdem wurde kein Schließungsbeschluss mehr getroffen. Doch bis dahin galt der Leitsatz von der „schrumpfenden Stadt“, die Zahl der Grundschulen sank von 106 auf 84.

"Wir werden weitere Grundschul-Bauten brauchen"

Doch die Entwicklung des neuen Bevölkerungs-Wachstums hat durch höhere Geburtenzahlen und Zuzug  so sehr an Fahrt aufgenommen, dass man kaum nachkommt. Ich bin froh, dass für das Frühjahr ein neuer Schulentwicklungsplan angekündigt ist, der dieser Entwicklung Rechnung tragen soll. Klar ist: Wir werden weitere, neue Grundschul-Bauten und Erweiterungen bestehender Schulen benötigen, und zwar zeitnah.

Was ist mit den weiterführenden Schulen?

Auch da brauchen wir dringend weitere Plätze. Die Entwicklung an den Grundschulen setzt sich hier ja fort. Man darf nicht vergessen, dass nicht alle jetzt geplanten Bauten zusätzlichen Schulraum schaffen. Wir bauen zum Beispiel zwar in Altenessen an der Erbslöhstraße eine neue Gesamtschule, aber wir verkleinern gleichzeitig die Bockmühle in Altendorf um zwei Züge. Das heißt, wir brauchen absehbar noch eine weitere, neue Gesamtschule, gleiches gilt für die Realschulen. Und weil die Gymnasien zu G9 zurückgekehrt sind, wird es bald auch dort zu eng.

Neben der Schaffung neuer Schulplätze – was sind für Sie weitere, drängende Bildungsthemen in Essen?

Die Digitalisierung. Vieles klappt derzeit besser als im ersten Lockdown, doch wir brauchen mehr Personal in der Stadt, um die Digitalisierung voranzutreiben. Mit Laptops, Tablets und elektronischen Tafeln in den Klassen ist es ja nicht getan. Wir brauchen dauerhaft fachkundiges Personal, das sowohl die Einrichtung als auch den dauerhaften Betrieb begleitet. Das Alfred-Krupp-Schulmedienzentrum braucht deshalb dringend Verstärkung. Zuletzt hat man dort die Bestellung und Verteilung von knapp 20.000 Tablets für Schüler und Lehrer gestemmt – nebenbei, sozusagen, zum Tagesgeschäft. Und auch das ESH spielt eine sehr wichtige Rolle hierbei.

Gibt es eigentlich auch kritische Stimmen in Sachen Digitalisierung?

Die Geräte dürfen kein Selbstzweck sein. Es gibt sehr viele neue, pädagogische Fragestellungen. Jetzt im Lockdown wird zum Beispiel darüber diskutiert, wie viele Videokonferenzen am Tag für Schüler sinnvoll sind. Den Stundenplan im Lockdown eins zu eins ins Internet zu übertragen, halte ich für eine Überforderung der Schüler. Jeder weiß: Videokonferenzen sind anstrengend. Es gilt auch, über weitere Wege in Kontakt zu bleiben, die von digitalen Lernplattformen ermöglicht werden. Wichtig ist: Schüler müssen sich begleitet und unterstützt wissen und dürfen nicht allein gelassen werden. Videokonferenzen sind da ein wichtiger, aber eben nur ein Baustein.

"Geräte dürfen bei der Digitalisierung kein Selbstzweck sein"

Themenwechsel – was macht die Stadt Essen, wenn im Jahr 2025 ein Rechtsanspruch für Eltern gültig wird auf eine Ganztagsbetreuung in der Grundschule?

Etwa die Hälfte der Essener Grundschulkinder geht derzeit in den Offenen Ganztag, wird also bis 16 Uhr betreut. Klar ist, dass der Bedarf weiter massiv steigen wird. Wir können das sicher nicht allein mit Neu- oder Erweiterungsbauten bewerkstelligen, denn hierfür steht uns oft der Platz gar nicht zur Verfügung. Den brauchen wir ja häufig schon für weitere Klassenräume. Darüber haben wir ja gerade gesprochen.

Das bedeutet?

Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, ob es an den Grundschulen künftig noch stärker so sein sollte, dass Klassenräume auch für den Offenen Ganztag genutzt werden. Dass die Klassenräume also ab 14 Uhr weiter benutzt werden. Dafür benötigen die Schulen Konzepte – viele Häuser verfahren schon so mit entsprechendem Erfolg. Die engere Verzahnung von Unterricht und OGS birgt auch Chancen.

Sie haben außerdem gesagt, die „soziale Balance“ ist für Sie eins der wichtigsten Themen. Das klingt, als ob Sie noch daran glauben, dass man die über Jahrzehnte gefestigte Spaltung in den armen Norden und den reichen Süden der Stadt nochmal ändern kann.

Schulpolitik ist natürlich nur ein Baustein. Aber Schwarz-Grün hat in seiner Koalitionsvereinbarung verabredet, dass wir deutlich mehr Schulsozialarbeiter an besonders herausfordernden Standorten benötigen. Hierbei spielen auch die Themen Integration und Inklusion eine wichtige Rolle.

Im Norden?

Wir haben auch Brennpunkte im Westen und im Osten der Stadt. Wir benötigen außerdem eine genauere Typisierung im Sozialindex, damit wir die zusätzlichen personellen Ressourcen auch zielgenau einsetzen können.

Der Sozialindex soll dafür sorgen, dass Ungleiches auch ungleich behandelt wird und nicht alles nach Schema F. Schulen, deren Schüler vorwiegend aus sozial schwachen Familien kommen oder Migrationshintergrund haben, sollen mehr Lehrkräfte und Sozialarbeiter bekommen. Was ist daran falsch?

Schulen werden derzeit landesweit in die Kategorien 1 bis 5 unterteilt, was das Soziale angeht. Doch dieses Raster reicht nicht. Die Einstufung mancher Schulen im gleichen Sozialraum ist selbst für Experten nicht nachvollziehbar. Eine Verteilung auf dieser Basis würde zu starken Ungerechtigkeiten führen

Was hilft eine genauere Kategorisierung?

Es ist ein Steuerinstrument, mit dem man den Einsatz von Schulsozialarbeit, Stellen und Mitteln besser koordinieren kann. Mir ist wichtig: Es geht um die Verteilung zusätzlicher Ressourcen, ausdrücklich nicht um eine Umverteilung.

ZUR PERSON

Dr. Andreas Kalipke (42) ist seit 2014 für die CDU im Rat der Stadt Essen. Bis zur Wahl als Ausschussvorsitzender war er auch schulpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Kalipke arbeitet als Lehrer für Geschichte, Latein und katholische Religion an einem Oberhausener Gymnasium. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mit seiner Familie lebt er in Holsterhausen.

Kalipke hat Janine Laupenmühlen (SPD) abgelöst, die von 2009 bis 2020 den Ausschuss leitete. Die Studiendirektorin und ehemalige Ratsfrau aus Kupferdreh trat vor der letzten Kommunalwahl im Herbst 2020 für kein Amt mehr an. Janine Laupenmühlen ist mittlerweile dreifache Mutter.