Essen. Es ist und war immer normal, dass es Ungleichheit gibt. Okay ist das allerdings nur, wenn die gesellschaftliche Durchlässigkeit funktioniert.

Es ist ein schmaler Grat zwischen dem üblichen sozialen Gefälle in einer Großstadtgesellschaft und einer extremen Schieflage, die Menschen hilflos nach unten abrutschen lässt, sie am Ende zum hoffnungslosen Sozialfall macht. Dazwischen verläuft eine feine Grenze zwischen der gewollten Abgrenzung unterschiedlicher Lebenslager und der zunehmenden Ausgrenzung einiger der vielen Milieus, die einst so selbstverständlich dazugehörten wie der Stau auf den Straßen.

Es ist und war schon immer normal, dass es Ungleichheit gibt. Manchem erscheint sie sogar notwendig für eine soziale und geistige Mobilität quer durch alle Schichten. Jedenfalls solange ein fast physikalisches Prinzip zu greifen scheint: Ein Plus auf der einen und ein Minus auf der anderen Seite, ein Haben und ein Habenwollen, sorgen dann für einen Ausgleich. Doch wenn diese Durchlässigkeit nicht mehr funktioniert, weil die Rahmenbedingungen, die meist ökonomischer Natur sind, sie nicht zulassen, türmen sich die Probleme auf.

Das alles ist nicht neu, aber auch nicht besser geworden

Es greift eine Entwicklung Raum, die mit dazu beiträgt, dass sich die soziale Ungleichheit eher verschärft, gleichzeitig befeuert durch Zuzüge wie die so renditegesteuerten und staatlich nur schwer zu kontrollierenden Gesetze der Wohlhabenden insbesondere auf dem enger werdenden freien Wohnungsmarkt. Zugegeben: Das alles ist nicht neu, aber auch nicht besser geworden, wie ein Rückblick zeigt.

Man schrieb das 1987, als eine erste Analyse mit dem Titel „Soziale Ungleichheit im Stadtgebiet“ auf der Basis von Sozialhilfedaten für ein mittleres Beben im Essener Rathaus sorgte. Die Erkenntnis daraus wirkte schockierend: Die fetten Jahre waren vorbei, es traten die Unterschiede zwischen den Lebenslagen im Norden und Süden der Stadt immer deutlicher zu Tage, ausgelöst durch Produktionssteigerung und Rationalisierung, die Arbeitsplätze kosteten.

Ein Drittel der türkischen Mitarbeiter waren damals Analphabeten

Wie etwa nach dem Aus für die Kokerei Zollverein wenige Jahre später: Ein Drittel der türkischen Mitarbeiter waren damals Analphabeten. Was bis dahin niemanden so recht interessiert hatte, weil es im Arbeitsalltag keine Rolle spielte, führte Menschen ohne Job plötzlich in die Sackgasse. Begriffe wie Randgruppen, Armut und Sozialhilfekosten machten die Runde, und sie wurden zu politischen Waffen, derer sich die Lager fortan munter bedienten.

Während die scheinbar noch allmächtige SPD wetterte, die Befunde könnten gar nicht stimmen, „weil wir dran sind“ an der Macht, waren die schlechten Zeichen der Zeit für die CDU „ja auch kein Wunder, weil doch die SPD dran ist“. Doch viel mehr passierte schon damals nicht. Doch, eins vielleicht: Mangels Gegenmittel wurden die Probleme verdrängt. Dabei hätte die schwarz auf weiß dokumentierte soziale Ungleichheit bereits vor über 30 Jahren der Schwerpunkt der künftigen politischen Arbeit werden müssen.

Die Sozial-Schau kam manchem zu nah an die Wahrheit heran

Doch manch Erkenntnis wurde unter den Teppich gekehrt, weil man um das Image Essens fürchtete, zumal die Kommune bundesweit zu den ersten gehörte, die mit ihrer, dieser Sozial-Schau nah, manchen zu nah, an die Wahrheit herankam. In dem einen oder anderen sozialen Mikrokosmos vollzog sich dann aber doch Erstaunliches. Etwa in Katernberg, der Keimzelle intensivster Stadtteilarbeit in Essen. Ohne das Engagement unterschiedlichster Kräfte über zwei Jahrzehnte hinweg wäre der vom Strukturwandel gebeutelte Stadtteil stellvertretend für andere Projekte, die ebenfalls schon früh auf den Selbsthilfewillen der Bewohner setzten, wohl nie da,, wo er heute ist. Katernberg steht nicht glänzend da, hat sich aber stabilisieren können. Das „Aktionsbündnis Altenessen“ ist ein weiteres positives Beispiel dafür, dass Sozialarbeiter in einem Boot mit vielen unterschiedlichen Akteuren sitzen müssen, die dann ein gestecktes Ziel ansteuern – und zwar gemeinsam.

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Ein kleinräumiges Richten von Schieflagen bei gleichzeitiger höchstmöglicher Transparenz als Grundlage für Entscheidungen war und ist dabei so unabdingbar wie herausfordernd zugleich. Es ist ein wiederkehrendes Mantra, dass Bildung für Kinder und Eltern gleichermaßen der Schlüssel zu Türen in andere Lebenswelten ist. Doch wie sollen Schulen natürlich vorhandene Begabungsreserven in allen Stadtmilieus heben und fördern, um dem drohenden Arbeitskräfteverlust durch den Demografiewandel und dem Fachkräftemangel begegnen zu können, wenn die Lehrer fehlen, eine Minderheit in den Klassen der deutschen Sprache mächtig ist und die Toleranz wie auch die Aufnahmebereitschaft einer Gesellschaft, die sich zusehends überfordert fühlt, dramatisch nachlässt.

In den Milieus vor Ort entscheiden sich die Lebensbedingungen

Gerade in den Milieus vor Ort entscheiden sich die künftigen Lebensbedingungen. Ob es Menschen gut oder schlecht geht, ist eine Frage von Arbeit und Einkommen, Selbstwertgefühl, Selbstbestimmung und sozialen Beziehungen, die beantwortet werden will. Eine Stadt muss ein massives Interesse daran haben, in die Lebenslagen von Familien zu investieren, Schieflagen zu begradigen, bezahlbaren Wohnraum auch in Quartieren zu schaffen, die noch nicht an der Belastungsgrenze stehen, und den Rotstift in der Schublade zu lassen. Ein Umdenken muss her. Ein „Weiter so“ verschärft die Spaltung der Stadtgesellschaft und gefährdet den sozialen Frieden.